Prof. Dr. Hans Joachim Meyer
Sächsischer Staatsminister für Wissenschaft und Kunst
Laudatio (Erfurt, 15. Juli 2000)
Die Kunst der Rede erfreut sich keiner großen Achtung in Deutschland – weder in der Wissenschaft, noch in der Politik. Wer nur die Sache selbst darstelle, so eine weit verbreitete Auffassung, der täte des Guten genug. Denn darin läge die Garantie der Wahrheit. Wer sich dagegen bemühe, den Zuhörer für seine Überzeugung zu gewinnen, brächte sich selbst in den Geruch des Verführers. Es ist dies eine Haltung, die das Argument nur als Glied einer zwingenden Schlussfolgerung kennt und die Entscheidung nicht versteht als Ergebnis des Suchens und Abwägens, sondern nur als Konsequenz regelgebundenen Handels. Allerdings beweist, wer Regeln einhält und Schlussfolgerungen zieht, nur Kompetenz in der Beherrschung von Tradiertem und Übernommenen, nicht aber eigene Urteilskraft und den Mut zur eigenen Entscheidung. Und diese Haltung setzt eine Beziehung von oben nach unten voraus - so die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler oder die Beziehung zwischen Obrigkeit und Untertan. Freilich steht eine solche Sicht auch für den ethischen Anspruch, der wahren Erkenntnis und dem richtigen Handeln verpflichtet zu sein und der Neigung zum Schein und zur Lüge zu wehren. „Gehorsam ist der Anfang aller Weisheit,“ heißt es sogar bei Hegel, dem Philosophen der Dialektik. Und sicherlich ist wahr, dass der Wille zur Erkenntnis, der sich selbst absolut setzt und das Hören missachtet, in die Irre geht. Allerdings kommt bei der Verpflichtung auf das schon Gedachte und Gesagte nicht in den Blick, dass für freie Menschen der Weg zur Wahrheit und zum richtigen Handeln von keiner menschlichen Autorität vorgegeben sein kann, sondern nur gemeinsam und mithin auch nur im Dialog zu finden ist. Ohne ein dialogisches Verständnis des Weges zur Wahrheit steht jedes Bemühen um Zustimmung schnell im Verdacht des Überredens und Verführens, wenn nicht sogar der unredlichen Täuschung. Die nüchterne Einsicht Marie v. Ebner-Eschenbachs – „Nicht jene, die streiten, sind zu fürchten, sondern jene, die ausweichen,“ – ist ein eher seltenes Gut.
Dass die Rhetorik in Deutschland nicht als argumentative Strategie gewürdigt, sondern als manipulatorische Trickserei diskriminiert wurde, ergab sich aus den Existenzbedingungen der wissenschaftlichen Rede und insbesondere der politischen Rede. In der Wissenschaft beförderte die Dominanz der Vorlesung und mithin des Monologs an deutschen Universitäten gegenüber dem für die englischsprachige Welt charakteristischen Dialog zwischen Lehrenden und Lernenden jene für den wissenschaftlichen Stil des Deutschen bis heute zu beobachtende Neigung, den Zuhörer nicht als zu interessierenden Adressaten zu behandeln, sondern als einen ob seines Interesses Zugelassenen, der sich durch eifriges Mühen um Verstehen des Ranges der Wissenschaft nun auch würdig zu erweisen hat. Nur im Kreis der Ebenbürtigen, denen die Freiheit der Wissenschaft verdientermaßen zukommt, erhält die Disputation ihr Recht und mit ihr, hört man genauer hin, auch die Kunst der Disputation. Im Reich der Politik dagegen fehlte über lange Strecken der deutschen Geschichte die wichtigste Notwendigkeit für die Mühe, den Sachverhalt einsichtig darzulegen und die Zuhörer für die eigenen Auffassungen zu gewinnen – nämlich die Freiheit, die es möglich macht, unterschiedliche Überzeugungen zu vertreten, und die zugleich die Notwendigkeit begründet, seine Mitbürger von der Richtigkeit oder von den Vorzügen seiner Position zu überzeugen, wenn man denn etwas in der Gesellschaft bewirken will. Es ist die öffentlich anzustrebende, öffentlich zu treffende und öffentlich zu vertretende Entscheidung, die nach öffentlicher Rede verlangt. Daher sind ihre idealen Orte das Gericht und das Parlament. Beide stehen, wenn sich die Entscheidung mittelbar oder unmittelbar auf ein gesellschaftliches Mandat stützt, in einer notwendigen Beziehung zum Forum der großen Öffentlichkeit. Im fürstlichen Obrigkeitsstaat ergingen jedoch richterliche wie politische Entscheidungen im Namen des Monarchen. Und gab es Parlamente, wie in den süddeutschen Staaten, so waren sie Bittsteller gegenüber den Regierungen. Erst die erste deutsche Nationalversammlung von 1848, ein Parlament glanzvoller Namen und großer Redner, erhob den Anspruch eigener Entscheidung auf der Grundlage der Volkssouveränität. Sie war wie Leopold v. Ranke gesagt hat, „dadurch einzig in ihrer Art, dass in ihrer Mitte alle Fragen über das Gesamtleben der Nation in freier Diskussion erörtert wurden.“ Aber der erste Versuch, die nationale Einheit in Freiheit zu begründen, scheiterte. Statt dessen wurde Deutschland von oben unter preußischer Führung geeint. Und sein Reichstag, wiewohl demokratisch gewählt und nicht ohne bedeutende Rednerpersönlichkeiten, war wiederum ohne reale Macht. Das änderte die Revolution von 1918, aber die Umstände waren nicht günstig für die von der Weimarer Nationalversammlung geschaffene Republik. So konnten die Feinde der Republik in schlimmster Weise alle jene Befürchtungen bestätigen, die der politischen Rhetorik in Deutschland schon immer entgegengehalten worden waren, dass sie nämlich, sobald sie die Grenzen der strengen Sachlogik überschreitet, nichts anderes sei als Demagogie. Die Freunde der Republik dagegen hatten gehofft, die Freiheit würde schon allein durch die von ihr gebotenen Chancen für sich selbst sprechen. Zu wenige hatten verstanden, dass die Freiheit mehr sein muss als ein Raum für jeden, der sie nutzen will, sondern dass die Freiheit eine Ordnung ist, die nur leben kann, wenn sich genügend Menschen leidenschaftlich für ihre Grundsätze einsetzen – in der Tat, aber eben auch im Wort.
Der Historiker Peter Wende hat in seinem Kommentar zur Sammlung politischer Reden in Deutschland die geistigen Wurzeln der bis heute nicht überwundenen Geringschätzung der politischen Rhetorik nachgezeichnet. Seine ersten Sätze geben be-reits den Grundakkord dieser für das Verständnis deutscher Vergangenheit und Gegenwart nicht unwesentlichen Einstellung an:
„Die Reputation politischer Rhetorik, insbesondere politischer Rede, ist in Deutschland seit jeher notleidend gewesen. Bereits das Genus erweckte Misstrauen. Die Kunst der Rede verstand man in erster Linie als die Kunst des Überredens, d.h. der Manipulation, ja der Lüge. „Rednerkunst ist als Kunst, sich der Schwächen der Menschen zu bedienen (...) gar keiner Achtung würdig,“ tadelte Kant, und ähnlich kompromisslos tat Goethe sie als die Hohe Schule des Verstellens ab. Politische Rhetorik galt ihnen und denen, die ihre Ansicht teilten, nicht als Medium rationalen Disputs, als Wettstreit der Argumente, sondern als gefährliches Instrument des machthungrigen Demagogen.“
Und Peter Wende fügt wenig später hinzu:
„Die Ursache hierfür liegt, so scheint es, auf der Hand. Denn „die Beredsamkeit wohnte nur da, wo Republik war, wo Freiheit herrschte, wo öffentliche Beratschlagung die Triebfeder aller Geschäfte war,“ hatte schon Herder festgestellt, und da nun einmal Deutschland das Land einer „hölzernen Knechtschaft“ sei, das öffentliche Leben der Deutschen in der Schreibstube und auf Paradeplätzen stattfinde, dürfe man nicht hier nicht suchen, was schlechterdings nicht vorhanden sein könne – eine eigene große Tradition politischer Rhetorik.“
So hat denn auch Walter Jens einen Vortrag „Von deutscher Rede“ mit dem bitteren Urteil Christian Daniel Schubarts aus dem Jahre 1730 begonnen: „Deutschland kann, nach seiner Verfassung, keine Meisterstücke in der politischen Beredsamkeit haben.“ Allerdings muss solchen historischen Rückblicken entgegengehalten werden, dass Deutschland nun und seit langem eine erprobte freiheitliche Verfassung hat. Im Westen Deutschlands, seinem größeren Teil, gilt sie seit mehr als einem halben Jahrhundert. Und der Osten Deutschlands trat dieser Verfassungsordnung bei im Ergebnis einer friedlichen Revolution und einer demokratischen Wahl. Der Entschluss zur Einheit erwuchs aus der selbst errungenen Freiheit. Aber Mentalitäten und Traditionen wirken lange. Und so hat 1966, als die Bundesrepublik bereits bewiesen hatte, dass, um einen bekannten Buchtitel zu zitieren, Bonn nicht Weimar war, der Namensgeber des heute zu verleihenden Preises, Dolf Sternberger, für den Westen Deutschlands kritisch festgestellt:
„Denn wie der Staatsmann bei uns ein Ruhmwort, so ist der Rhetor und so ist die Rhetorik bei uns ein Schimpfwort.“
Ironisch kommentierte er das öffentliche Kopfschütteln über seine Absicht, den Staatsmann als Rhetor und Literaten zum Thema eines Vortrages zu machen, mit den Worten:
„Aber es ist das zum guten Teil – nicht ganz und gar, aber doch zum guten Teil – ein spezifisch deutsches Kopfschütteln, eine spezifisch deutsche Verwunderung und Verwunderlichkeit.“
Dies hat, wie wohl unschwer zu beweisen wäre, bis heute seine Richtigkeit. Und doch: So wie gelegentlich Menschen nur aus großer Entfernung eine Veränderung bemerken und ihren Wert recht zu würdigen wissen, so will ich als jemand, der das politische Leben in der Bundesrepublik vierzig Jahre lang fast ausschließlich nur über die elektronischen Medien verfolgen konnte, bekennen, wie oft ich tief beeindruckt war von den Reden und Debatten, die diese Entwicklung bestimmten und ihr rhetorischen Ausdruck verliehen. Und dies gilt mit Sicherheit nicht nur für mich. Bis heute ist mir in lebendiger Erinnerung, wie wir als Schüler in den fünfziger Jahren die leidenschaftlichen Aus18 einandersetzungen über den künftigen Weg der Bundesrepublik nach Europa und in die westliche Gemeinschaft verfolgten. Es war Gesprächsthema in der Klasse wie in späteren Jahren wohl nur noch die Fernsehkrimis von Durbridge. Und bis heute könnte ich Reden und Debatten nennen und beschreiben, die Wegscheiden und Wendepunkte der Bundesrepublik ins Wort setzten und durch die aus ihnen hervorgehende Entscheidung Wirklichkeit werden ließen. Es sind Erfahrungen, die ich nicht missen möchte. Ich bin gewiss kein unkritischer Zuhörer. Dennoch war die passive Teilnahme an der Entwicklung der politischen Rhetorik in der Bundesrepublik für mich, und wie ich glaube, für viele andere wertvoll und, im Rückblick auf was in den letzten zehn Jahren von uns zu tun und zu sagen war, unverzichtbar.
Zwar ist mit Recht die deutsche Sprache als eines der stärksten Bande der Gemeinsamkeit in den Jahren der Trennung gewertet worden. Um so deutlicher waren die Unterschiede in der Art des politischen Sprechens. In vielerlei Hinsicht waren die DDR und die Bundesrepublik in der Zeit von 1949 bis 1989 ein Kontrastprogramm. Dabei gab es wesentliche und unwesentliche Kontraste, und es gab auch Gebiete, auf denen die DDR für manche Beobachter besser oder doch jedenfalls nicht ganz so schlecht abzuschneiden schien. Über einen Punkt jedoch bestand zwischen Gegnern und Sympathisanten der DDR wohl kein Streit: Die sprachliche Selbstdarstellung der DDR durch ihre Führung war meist langweilig, nicht selten abstoßend und allzu oft lächerlich.
Wie weit man die politische Sprache der SED in die spezifisch deutsche Tradition der Unterbewertung politischer Rhetorik 19 stellen kann, weiß ich nicht. Die Antwort auf diese Frage bedürfte wohl der vergleichenden Analyse mit den politischen Äußerungen in den anderen europäischen Ländern des sogenannten real existierenden Sozialismus. Jedenfalls entsinne ich mich eines Fernsehinterviews mit dem letzten kommunistischen Ministerpräsidenten Polens, Rakowski, dessen Deutsch meinen Ohren ungleich gewandter klang als das seiner Ostberliner Gegenstücke. Ich weiß, dass man über Geschlagene nicht höhnen soll und dass jeder Sieg durch Großmut gewinnt. Aber ich kann und will nicht verschweigen, was für eine Mischung von unüberwindlichem Abscheu und peinlicher Verlegenheit mich überfiel, sobald ich den Reden und Äußerungen Walter Ulbrichts und Erich Honeckers nicht entgehen konnte. Selbst entschiedene Gegner der SED-Führung hätten sich eine noch stärker entlarvende Besetzung des ersten Redners der DDR nicht einfallen lassen können. Mit dem aufdringlich schreienden Tonfall des Agitators, den sie aus ihrer Kampfzeit beibehalten hatten, verbanden sie die pseudowissenschaftliche Anmaßung einer Ideologie, die von sich selbst behauptete, sie sei allmächtig, weil sie richtig sei, garniert mit den plumpen Witzchen und Mätzchen von Leuten, deren Erfolg von Polizei und Sicherheitsdienst garantiert wird. Dolf Sternberger hat in Bezug auf „die Verwalter der sozialistischen Wahrheit“ einmal gesagt, dass sie „es verwerfen, durch einzelne Akte Zeichen zu setzen“ und es statt dessen vorziehen, „Zeichen zu lesen“ und, wie einst die bestellten Zeichenleser, „die Eingeweide der Geschichte zu erforschen“. Wenn es denn nur das gewesen wäre, denn dieses Geschäft ist ja noch mit Würde und Bildung zu leisten. Und ich will auch durchaus nicht behaupten, es hätte unter den Repräsentanten der SED-Herrschaft niemanden gegeben, der nicht mit Anstand eine Rede halten konnte. Was aber meist den rhetorischen Ausdruck der SED-Führung und damit weithin die politische Rede in der DDR prägte, war bis zur tödlichen Krise von 1989 die Machtsprache Stalins, die im Wesentlichen – übrigens ganz im Gegensatz zur beweglichen und nicht selten polemisch überdrehten Sprache Lenins – aus Behauptungen und Beschuldigungen in unbeweglichen und glanzlosen Bürokratenformulierungen bestand. Wie hilflos diese Sprechweise war gegenüber Herausforderungen, denen nicht mehr mit Gewalt beizukommen war, erwies sich, als die Macht der SED zusammenbrach. Der lächerliche Auftritt Erich Mielkes vor der Volkskammer ist da nur ein eklatantes Beispiel.
So brachte uns der revolutionäre Herbst auch die Freiheit der Sprache. Wenn irgendetwas die Reden und Äußerungen der neu in die Politik Tretenden – unbeschadet aller Unterschiede und Gegensätze – vereinte, dann war es der erkennbare Wille, jedenfalls anders zu sprechen und zu schreiben als die Vertreter der alten Macht. Wolfgang Thierse hat 1994 zu Beginn seines Beitrags zur Reihe Dresdner Reden „Zur Sache: Deutschland“ bekannt:
„Nach meiner Erfahrung gehört zu den schlimmsten Beschädigungen, die die DDR bei ihren Bürgern angerichtet hat, die Beschädigung der Fähigkeit, öffentlich zu sprechen, für das eigene selbstbewusst und selbstbestimmt einzutreten. Wie und wo sollte auch diese Fähigkeit erworben werden, gab es in der DDR doch keine Öffentlichkeit – jenes wichtigste Charakteristikum einer zivilen Gesellschaft. Im Gegenteil. Die normierte, die entpersönlichte Sprache herrschte wie sie das Neue Deutschland, das Zentralorgan, formulierte.“ Und Thierse erinnerte daran, dass „auf Parteitagen der SED oder in DDR-Volkskammersitzungen vor 1990 nicht frei geredet werden konnte, sondern eisern vom Blatt abgelesen werden musste. Fast nichts war ideologisch so verpönt, wie bürgerliche Spontaneität bzw. kleinbürgerlicher Subjektivismus. Die SED-oberen ... redeten ja immer mit dem Anspruch der objektiven Wahrheit, der wissenschaftlichen Weltanschauung.“
Als Erfahrungsquelle und Lernort der politischen Rede standen den Ostdeutschen nur die halböffentlichen Dialoge in den Gremien der beiden Kirchen sowie die oppositionellen Gespräche unter dem Dach der evangelischen Kirche zur Verfügung. Daneben konnte nur auf die Sprache des Alltags und des Berufes zurückgegriffen werden, was diesen Äußerungen die Frische der Unmittelbarkeit und den gern zum Ausdruck kommenden persönlichen Bezug gab. Letzterer erhielt dann von westlichen Kommentatoren bald das Etikett „Betroffenheit“. Und wer will bestreiten, dass die gelegentliche Unerfahrenheit mit den Usancen der Politik und ihren Äußerungsformen dazu auch einlud. Als deutlicher wurde, dass die Einheit nicht zum Nulltarif zu haben war und rauere Umgangsformen Einkehr hielten, mutierten die gewählten Repräsentanten der DDR zur „Laienspielschar“. Das waren wir in der Tat im doppelten Sinne: Denn wir wollten mit dem bisherigen politischen Betrieb in der DDR nichts zu tun haben. Und wir wollten sein, was das Wort laikos besagt: Menschen aus dem Volk. Die größte Herausforderung für die meisten in dieser Laienspielschar war denn auch nicht, dem zu genügen, was die Grundregel für eine politische Rede sein sollte, nämlich unseren Standpunkt mit guten Gründen und persönlicher Anteilnahme verständlich und überschaubar vorzutragen, obwohl auch dies eine Leistung ist, die Anstrengung erfordert und nie selbstverständlich ist. Aber in den ersten Monaten des Aufbruchs sprach man noch fern von der Chance und Gefahr, das Gewollte auch selbst umsetzen zu können und damit zugleich die Verantwortung dafür zu übernehmen. Politische Verantwortung bedeutet ja nicht nur entscheiden zu können, sondern auch entscheiden zu müssen. Was wir jetzt zu lernen hatten, war, die Position der Kritik, die vom Angriff auf das Bestehende lebt und überdies ja fast immer mindestens ein Körnchen Wahrheit für sich hat, durch die Position der Verantwortung zu ersetzen, ohne zu vergessen, was wir gestern gedacht und gesagt hatten. Und für jede Entscheidung, die aus der Position der Verantwortung getroffen wird, gilt eben auch, dass sie mindestens ein Körnchen Wahrheit gegen sich hat – nicht selten ist es auch ein ganzer Sack – und dass sie dennoch richtig und begründbar sein kann. Und wir mussten lernen, unter den Bedingungen einer Kommunikationsgesellschaft zu agieren, in denen viele Auge und Ohr der Öffentlichkeit auf sich ziehen wollen und in der daher das Kurze und Grelle, insbesondere wenn es von Anderen abweicht, aber dennoch die Erwartung vieler insgeheim trifft, von unüberholbarem Vorteil ist.
Wie wir vieles gelernt haben, so haben wir auch das gelernt und lernen es weiter. Dennoch gibt es heute in der deutschen Öffentlichkeit immer noch einen unverwechselbaren ostdeutschen Ton. Ich sage bewusst einen ostdeutschen Ton, nicht eine ostdeutsche Stimme. Denn es gibt mehr als eine Stimme, und – wie selbstverständlich in einer freiheitlichen Gesellschaft – sind sich diese ostdeutschen Stimmen durchaus nicht einig. Dennoch gibt es eine Art von politischer Rede in Deutschland, die – im Konsens wie im Konflikt – ostdeutsche Erfahrung und ostdeutsche Lebenssicht zur Sprache bringt. Eine der wichtigen Stimmen, die der Geschichte der Bundesrepublik von 1949 bis 1989 anders geartete Lebenshaltungen und Einsichten von Menschen aus der DDR hinzufügt und so zugleich dafür sorgt, dass die Geschichte seit 1989 und 1990 wirklich eine gesamtdeutsche Geschichte wird, ist die von Joachim Gauck, zu dessen Ehrung wir uns heute hier versammelt haben. Und seine Stimme ist fraglos unter jenen, die seit 1990 von der gesamtdeutschen Öffentlichkeit gehört werden, von Rang und Einfluss. Das ist in seiner Person begründet und in seinem Thema. Ich sage es bewusst in dieser Abfolge. Denn obwohl der Name Gauck inzwischen für eine Behörde und deren Aufgabe steht und Joachim Gauck den größten Teil seines Redens und Schreibens seit 1990 diesem Thema gewidmet hat, so ist doch seine rhetorische Leistung, für die er heute geehrt werden soll, in seiner Person begründet und nicht in der Öffentlichkeitswirkung seines Themas. Freilich können wir froh sein, dass er es war, dem es anvertraut wurde. Ich kenne durchaus auch solche, die abschreckend zeigen, wie man auch damit hätte umgehen können.
Seine Position im Schnittfeld deutscher Biographien hat Joachim Gauck 1992 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wie folgt beschrieben:
„Ich habe mich nie bewusst als DDR-Bürger fühlen wollen. Das ließ mein Stolz, das ließen mein Demokratieverständnis und mein Freiheitsbewusstsein nicht zu. So kam es, dass ich, während es die Spaltung gab, mich deutlich als Deutscher fühlte. Seit es aber die Spaltung nicht mehr gibt, fühle ich mich deutlicher als Ostdeutscher, obwohl mein politisches Bewusstsein schon zur Zeit der Wende und bis heute die Einheit bejahte.“
Ein Deutscher also, dessen Lebensraum jener Osten Deutschlands ist, der bis 1990 die DDR war – jene DDR, die durch die friedliche Revolution zu einem freien Land wurde und deren Bürgerinnen und Bürger dann durch ihre eigene Entscheidung der Ordnung des Grundgesetzes beitraten und so zu einem Teil der schon vier Jahrzehnte lang bestehenden Bundesrepublik wurden. Joachim Gauck hat zu jenen gehört, die diesen Weg einleiteten und mitgestalteten: Im Oktober 1989 als Mitbegründer des Neuen Forums in Rostock, von März bis Oktober 1990 als Abgeordneter der frei gewählten Volkskammer. Erst die Freiheit, dann die Einheit – diese Abfolge, die Gauck nicht müde wird hervorzuheben, kann gar nicht oft genug wiederholt werden, damit die Geschichte nicht verfälscht wird. Freilich blieb auch in der Zeit der DDR der Lebensraum trotz aller Vereinheitlichung durch die SED bestimmt von jener Vielfalt, wie sie in der deutschen Geschichte gewachsen ist. Und so gehören zum Bild des Joachim Gauck zwei Züge wesentlich hinzu – die des Pfarrers der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Mecklenburgs und die eines Mannes niederdeutscher Nachdenklichkeit, der aber durchaus gelegentlich ein klares Wort im Streit kennt. Beides prägt bis heute seine Sprache, die darstellt und klarstellt, die einlädt und, wenn er es für nötig hält, auch angreift, die überwiegend ernst bleibt, aber dem Zuhörer entgegenkommen will. Die gleichwohl Mätzchen vermeidet und dennoch, auch das muss gesagt werden, nicht in jenes fromme Salbadern verfällt, das man geübten Predigern gern vorhält.
Ich kenne nicht die Reden, die der Pfarrer Joachim Gauck 1989 in Rostock innerhalb und außerhalb von Kirchen gehalten hat. Und wahrscheinlich sind diese weder aufgezeichnet noch gedruckt worden. Aber es gibt einen Artikel, den der frisch gewählte Volkskammerabgeordnete im April 1990 in der ZEIT veröffentlicht hat. Und wie es sich so fügt, ist der Artikel genau jenem Thema gewidmet, das dann durch Beschluss der Volkskammer und danach auch des Bundestages seine Aufgabe werden sollte – der Umgang mit der Hinterlassenschaft des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Obwohl dies ein schriftlicher Text ist, will ich den Anfang hier zitieren, weil er ein beeindruckendes Beispiel gibt für die neue politische Sprache, die mit der Wende im Osten Deutschlands öffentlich wirksam werden konnte:
„Vor mir liegen Photos aus Rostock vom März: Motive aus der Stasi-Zentrale. Es sind aktuelle Photos: leere Gänge, leere Tische, Säle. Ein Haufen leerer Aktenordner. Leer auch der Raum der ehemaligen Einlasskontrolle, leere Bildschirme, leere Panzerschränke, ein leerer Wandspruch. Kein Mensch auf den Photos – Zufall?
Gefüllt sind in diesem Haus noch die tieferen Etagen. Hier gibt es das umfangreiche Aktiv. Dort wird noch gearbeitet, kontrolliert von der Volkspolizei und dem Untersuchungsausschuss. Dort lagern noch gefüllte Säcke, versiegelt und verwahrt. Die Aktenordner dort sind prall gefüllt.
Oben im stattlichen Gebäudekomplex des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit ziehen in diesen Tagen die neuen Nutzer ein. Unsicheren Schritts bewegen sich ehemals Überwachte über Schwellen und Flure des Territoriums eines gefürchteten, gehassten, von einigen auch benötigten „Organs“ des realen Sozialismus. Bald wird hier gelehrt, verwaltet, geheilt, wohl auch gerecht gerichtet werden. Hier und in hundert ähnlichen Häusern unseres Landes.“
Es war wohl eher Zufall, dass von Joachim Gauck so früh ein Artikel zu dieser Thematik erschien. Vielleicht haben die Redakteure der ZEIT gemeint, für Erinnern und Vergeben sei am ehesten ein Theologe zuständig. Gauck dachte wohl damals eher an andere Politikfelder. Aber die Aufgabe lief auf ihn zu. Für eine Sache, die aus Misstrauen geboren worden war, wurde er zur Person des allgemeinen Vertrauens. Das führte zu seiner Wahl – zunächst zum Sonderbeauftragten der Volkskammer und dann zum Bundesbeauftragten für die Unterlagen des ehemaligen DDR-Ministeriums für Staatssicherheit. Sein Verständnis dieser Aufgabe hat er im Dezember 1991 in einigen Grundsätzen für die Arbeit der Behörde formuliert. Meine Frau, die im November 1989 und danach in Potsdam zu den Auflösern der dortigen MfS-Dienststelle gehörte und anschließend bis 1999 in der Gauck-Behörde arbeitete, hatte sie dort über ihrem Schreibtisch:
„Alle Menschen teilen miteinander die Fähigkeit zu versagen und die Fähigkeit, ein Mitmensch zu sein; wir sind nicht berufen, Menschen zu verurteilen.
Wir respektieren die Würde eines Mitmenschen auch, wenn wir durch unsere Arbeit Zeuge von Schwäche, Versagen und Schuld werden; wir wissen um die Wirklichkeit von Schuld als einer Dimension des Menschlichen.
Weil wir die Würde eines jeden Menschen respektieren, enthalten wir uns des Übermuts und der hämischen Haltungen gegenüber Menschen, die anders gelebt haben als wir es für richtig halten. Wir gehen deshalb mit sensiblen Kenntnissen über unsere Mitmenschen so um, wie wir selber behandelt werden möchten, wenn es um Informationen aus unserem Leben ginge. Die Fähigkeit zu vergessen ist in diesem Zusammenhang eine Tugend. Die Fähigkeit zu schweigen, empfinden wir in diesem Bereich besonders deutlich als Pflicht.
Unser Platz ist nicht über denen, die Einsicht und Auskunft begehren, er ist neben ihnen. Dabei soll sich jedermann auf unsere korrekte Wahrnehmung und auf unsere Nüchternheit verlassen können; beides muss nicht im Widerspruch stehen zu einer solidarischen Haltung gegenüber denen, die uns begegnen.“
Wer Tugenden beschreibt, weiß um die Versuchungen, die ihnen entgegenstehen. Joachim Gauck wird sich, wie viele andere die vor und nach ihm im Osten Deutschlands als Neue in die politische Verantwortung kamen, keine Illusionen gemacht haben über die Bürde, die man ihm da auflud. Das machen jedenfalls diese Grundsätze deutlich, in denen ja auch schon erste schwierige Erfahrungen mit diesem Amt mitklingen. Und doch war 1991 noch ein Grundkonsens wirksam, der jede Tendenz zur Verklärung der DDR-Vergangenheit auszuschließen schien. Gauck selbst hat wiederholt darauf hingewiesen, dass in Jahrzehnten gewachsene Mentalitäten, die überdies auch frühere obrigkeitsstaatliche Haltung tradierten, nur langfristig überwunden werden können. Man wird hinzufügen müssen, dass auf jede revolutionäre Euphorie Ernüchterung, ja Enttäuschung folgt und dass zu solcher Enttäuschung im Osten auch Gründe gegeben sind, die nicht ausnahmslos der alten Herrschaft angelastet werden können. Aber auch wenn es keine Fehler im Aufbau einer völlig neuen Ordnung gegeben hätte, so kann das Neue doch nicht entstehen ohne Anstrengung und Verzicht auf Vertrautes. Gauck selbst hat an die Klage der Israeliten wider Moses erinnert, er hätte sie doch besser bei den Fleischtöpfen Ägyptens lassen sollen. Wolfgang Engel, der Leipziger Intendant und Regisseur, hat einmal gesagt, erst jetzt hätte er begriffen, was er als Kind nicht verstanden hätte: Warum die Israeliten so lange von Ägypten bis ins Gelobte Land unterwegs gewesen wären. Niemand könne eben mit einem Sprung aus dem Land der Gefangenschaft in das Land der Freiheit gelangen.
Es liegt in der Konstruktion des Amtes, das Joachim Gauck anvertraut wurde, auf drei Schlachtfelder zu geraten. Einerseits obliegt seiner Behörde, Akten zu ordnen und jenen zugänglich zu machen, die dazu befugt sind. Er trifft also, wie er immer wieder betont hat, selbst keine Entscheidungen, ist weder Inquisitor oder Ankläger noch Richter. Allerdings besteht der Sinn dieser Arbeit darin, Menschen aus Positionen öffentlicher Verantwortung herauszuhalten, die dem hoch perfektionierten Überwachungsdienst der SED Informationen zutrugen, und davon betroffenen Menschen Einblick zu geben, was über sie zusammengetragen wurde und wer dies tat. So nüchtern behördentechnisch das klingt, so dramatische Konsequenzen hat dies in der Realität - und zwar sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft. Und was im ersten Zorn über das Ausmaß der zwar von allen geahnten, aber mit dieser Systematik denn doch nicht für möglich gehaltenen Überwachung für eindeutig und rasch entscheidbar gehalten worden war, erwies sich bei näherer und längerer Betrachtung als überaus komplex und differenziert. Das hebt die Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern nicht auf, auch wenn gelegentlich beides vom gleichen Menschen gesagt werden könnte. Aber es erhöht die Gefahr der Missverständnisse und Fehldeutungen in beiden Richtungen, die durch den Druck der Öffentlichkeit und die höchst unterschiedlich motivierten Enthüllungsinteressen der Medien ohnehin groß ist. Jedenfalls ist die Wirklichkeit nicht selten sehr viel komplizierter, als sie auch sorgfältig vorbereitete, aber zwangsläufig normierte und mit Textbausteinen operierende Auskünfte auch nur halbwegs ausdrücken können.
Da sind die Menschen, deren Leben durch Bespitzelung oder durch gezielte Operationen zerstört wurde. Nicht selten ist diese Zerstörung irreparabel. Da ist die Enttäuschung über den Verrat im engsten Freundes- oder Familienkreis. Da ist aber auch die Erleichterung, das ein Verdacht unbegründet war. Und hin und wieder die Enttäuschung, dass beruflicher Misserfolg eben doch keine finsteren Gründe hatte. Da ist, auf der anderen Seite, das breite Spektrum möglicher Zuarbeit zur Überwachung durch das MfS: von der bereitwilligen und hemmungslosen Übermittlung selbst der intimsten Details bis zur gelegentlichen Weitergabe von – wahrscheinlich, aber wer kann das wirklich wissenharmlosen Nichtigkeiten. Da ist vor allem das weite Feld möglicher Motive: die Überzeugung, dies sei für den Sozialismus notwendig (eine Auffassung, die allerdings auch die meisten SED-Mitglieder wohl nicht teilten), aber vor allem die ganze Skala menschlicher Schwächen als da sind Eitelkeit, Wichtigtuerei, Selbstsucht, Angst, Feigheit, Naivität, Gedankenlosigkeit – also Eigenschaften, die zur Erpressung und Versuchung nur zu gut genutzt werden können. All dies zu bewerten, obliegt nicht der Behörde des Bundesbeauftragten. Andererseits ist es Joachim Gauck natürlich nicht entgangen, dass die Prozeduren und Kriterien der Bewertung in den ostdeutschen Ländern höchst unterschiedlich sind, ja sogar im gleichen Land divergieren, und überdies zurückhaltend gesprochen, von pragmatischen Erwägungen – oder soll ich gleich sagen: fiskalisch bedingten Entlassungszwängen – nicht immer frei sind. Noch gravierender sind die Folgen seiner Auskünfte, wenn sie Persönlichkeiten des politischen Lebens betreffen. Da kann es nicht ausbleiben, dass eine Beziehung hergestellt wird zu seinen eigenen Auffassungen wa zu Positionen in der Evangelischen Kirche vor der Wende. Er selbst hat klar gestellt, dass für ihn der Begriff „Kirche im Sozialismus“ stets nur eine Ortsbestimmung für den Dienst der Kirche an den Menschen in der konkreten Wirklichkeit der DDR bezeichnet hat und keine Option für den Sozialismus ausdrückte.
Das zweite und für Joachim Gauck besonders wichtige Feld der Auseinandersetzung ergibt sich aus dem eigentlichen Sinn der Beschäftigung mit der Rolle des MfS. Für ihn geht es darum, Menschen das zurückzugeben, was ihnen genommen wurde, nämlich die Selbstbestimmung über ihr Leben. In dem er die Machenschaften des Bespitzelungssystems aufklärt, will er Menschen helfen, sich selbst von der Last der Vergangenheit zu befreien und ihre Angst zu überwinden. Damit entlarvt er zugleich, wie die Unterdrückung funktionierte, um so das politische und ideologische Herrschaftssystem zu delegitimieren, das diesen Apparat schuf. „Schild und Schwert der Partei“ - das war die Selbstbeschreibung des Ministeriums für Staatssicherheit. Daher gibt es wohl kaum ein Interview mit Joachim Gauck, in dem er nicht die Beschränkung des öffentlichen Interesses auf die Inoffiziellen Mitarbeiter kritisiert und nachdrücklich auf die Hauptverantwortlichen hinweist - im Apparat der Staatssicherheit selbst wie vor allem in der politischen Herrschaftsstruktur der SED. Mit diesem Bemühen ist Joachim Gauck nun wiederum in eine Debatte über die Frage hineingeraten, ob denn nicht eine grundsätzlich kritische Auseinandersetzung mit dem System des real existierenden Sozialismus geeignet sei, dieses auf die gleiche Stufe mit dem nationalsozialistischen Herrschaftssystem zu stellen und damit letzterem die Einmaligkeit des Schreckens zu nehmen. Diese Debatte hatte Gauck wahrscheinlich am wenigsten erwartet. In der WELT hat er 1994 auf den notwendigen Zusammenhang zwischen Antifaschismus und Antikommunismus verwiesen, vorausgesetzt beide haben ihre Wurzel im Bekenntnis zur freiheitlichen Demokratie.
„Wer nicht imstande ist, gegen die Wegnahme von Freiheitsund Persönlichkeitsrechten durch Kommunisten eine antikommunistische Antwort zu geben, der verfehlt Tugenden, die ein wirklicher Antifaschist hat. Antifaschismus und eine bestimmte Form des Antikommunismus gehören historisch zusammen.“
Drittens musste sich Joachim Gauck mit dem Vorwurf auseinander setzen, seine Behörde diene dazu, den Osten Deutschlands dem Westen zu unterwerfen. Wer sich an die Breite der Volksbewegung gegen die Dienststellen des MfS als den Zwingburgen der SED im Herbst 1989 erinnert, dem muss dieser Vorwurf besonders absurd vorkommen. Bekanntlich erzeugt noch heute jede der immer wieder losbrechenden Schlussstrichforderungen neue Wellen von Anträgen auf Auskunft. Freilich ist wahr, dass es Leute im Westen gibt, die die Enthüllungen über das Ausmaß der MfS-Überwachung in der DDR als Munition in gesamtdeutschen Verteilungskämpfen nutzen, um so die ihnen unwillkommenen Neubundesbürger insgesamt politisch zu diskreditieren. Daher hat Joachim Gauck viele Gelegenheiten genutzt, an gesicherten Zahlen darzustellen, wie gering trotz allem der Prozentsatz jener in der DDR war, die dem MfS zu Diensten waren, und wie überraschend hoch andererseits die Zahl jener im Westen, die ohne Not - aus Gewinnsucht oder aus ideologischer Verblendung - bereit waren, sich dem gefährlichsten Feind der freiheitlichen Ordnung zur Verfügung zu stellen. Und er hat auf den Mut und das Geschick hingewiesen, mit der sich Menschen in der DDR dem Ansinnen des MfS entzogen.
Durch sein unermüdliches Engagement in der öffentlichen Debatte hat Joachim Gauck wesentliche Einsichten in das gesellschaftliche Meinungsbild eingefügt. Trotz seiner herausgehobenen Stellung und der Bedeutsamkeit seines Auftrags ist dies alles andere als selbstverständlich. Denn seine Debattenbeiträge sind differenziert und stehen damit gegen jenen Trend, den Dolf Sternberger einmal wie folgt beschrieben hat:
„Es ist sonderbar, dass Totalurteile fast immer eine größere Magie ausüben als Detailurteile, das heißt unterscheidende Urteile, kritische Urteile.“
Trotz seines kritisch unterscheidenden Urteils, das ihn nicht selten zwischen alle Fronten geraten lässt, ist Joachim Gauck - nicht zuletzt durch die argumentative Qualität seiner Rhetorik - zu einer maßgebenden politischen Persönlichkeit im vereinigten Deutschland geworden, obwohl er sich in seinem Amt keiner Partei zugehörig zeigt. So war es eigentlich nur konsequent, ihm als einem politisch ausgewiesenen, aber unabhängigen Ostdeutschen anzutragen, in der Feierstunde des Deutschen Bundestages zum 10. Jahrestag der Öffnung der Mauer eine Rede zu halten. Gleichwohl war diese Rede eine besondere Herausforderung. Denn erstens ist der 9. November 1989 für viele Ostdeutsche, ganz im Unterschied zu den meisten Westdeutschen, nur eine Folge dessen, was am 9. Oktober und an den Tagen davor und danach in Leipzig und in anderen Städten der DDR geschah: Denn vor den Hundertausenden von friedlichen Demonstranten, die sich trotz der Drohung mit einer chinesischen Lösung, am 9. Oktober in Leipzig unter dem Ruf „Wir sind das Volk“ versammelten, wich die SED-Führung zurück und hatte damit ein für allemal verloren. Dass das in den folgenden Tagen immer mehr zerbrechende System nicht mehr lange in der Lage sein würde, die widernatürliche Mauer geschlossen zu halten, war seit dieser Niederlage klar. Zweitens war man wohl zunächst bei der Planung der Feierstunde der Auffassung gewesen, es gäbe inzwischen genug ostdeutsche Repräsentanten in der politischen Führung der Bundesrepublik. Und da bekannt wurde, dass das Programm nachträglich korrigiert worden war, hätte ein Mensch geringerer rhetorischer Fähigkeit als Joachim Gauck besorgen müssen, er ginge im Kreis der anderen hochmögenden Redner unter. Tatsächlich ist die Feierstunde jedoch wegen Gaucks Rede in die geschichtliche Erinnerung der gesamtdeutschen Bundesrepublik eingegangen. Und so ist sie neben der herausragenden Leistungen Joachim Gaucks im öffentlichen Diskurs der ausdrückliche Grund für die heutige Würdigung.
Gauck beginnt seine Rede mit einem Gruß an George Bush und Michail Gorbatschow, die im revolutionären Herbst 1989 an der Spitze der Weltmächte – der USA und der Sowjetunion – standen. Das ist ein Gebot der Höflichkeit und ein Ausdruck des Realismus. Denn ohne die Akzeptanz durch die Weltmächte wären deutsche Freiheit und Einheit nicht möglich gewesen. Aber er holt Martin Luther King und Andrej Sacharow gleichsam hinzu und erinnert so an die gewaltlosen Bürgerrechtsaktionen in den USA, die vom Ruf „Ohne Gewalt“ durch die Demonstranten in der DDR aufgenommen wurden. Und er erinnert an den Mut der Bürgerrechtler in der Sowjetunion, die Perestrojka und Glasnost` vorangingen. Ebenso holt er rhetorisch bekannte und unbekannte Bürgerrechtler aus den Tagen der Wende und davor in den Plenarsaal des Reichtages, in dem der Bundestag jetzt etwas feiert, was in der DDR geschah, und er reiht sich ein in diesen Kreis – „als einer von ihnen, der 1989 in Rostock aktiv war“. Ohne diese Menschen, die Bekannten und die Unbekannten, „hätte sich unser Land nicht verändert und nicht geöffnet“.
In einem zweiten Schritt beschreibt der Redner dann den Weg vom Appell an andere und der Hoffnung auf Hilfe von Außen zur selbstbewussten Aktion unter dem Ruf „Wir sind das Volk“. „Es ist unbeschreiblich, was in einem vorgeht, der sich ein ganzes Leben lang nach Freiheit gesehnt hat und der dann zum ersten Mal in seiner eigenen Stadt mit seinen eigenen ängstlichen Landsleuten auf die Straße geht.“ Und der Christ Joachim Gauck denkt an das Jesuswort: Steht auf, nimm dein Bett und wandle! Er erinnert an die Besetzung der Zwingburgen des MfS in den ersten Dezembertagen und vergisst nicht, dass in Polen schon zehn Jahre vorher Menschen ihren Mut vor einer allmächtigen Partei bewiesen hatten.
In einem dritten Schritt entwirft Gauck dann ein Bild jener bewegenden Tage, als der Aufbruch in die Freiheit ein ganzes Volk ergriff und, wie er hinzufügt, selbst viele SED-Genossen mitriss. Er weiß, dass gerade nicht wenige der damals Aktiven dieser Tage mit Trauer und Wehmut gedenken und bekennt sich gegen westliche Ironie zu diesem „Traum vom Leben“, der ganz wirklich war. Und er ermutigt die Menschen, gegen alle Nostalgie daran festzuhalten, dass sie damit einen Beitrag zur europäisch- amerikanischen Freiheitsgeschichte leisteten. „Wir waren nicht länger Objekt der Politik, sondern begannen selber zu gestalten.“ Freilich währte die Zeit nicht lange, in der experimentiert und die eigenen Kräfte erprobt werden konnten. Joachim Gauck spart denn auch die Härte der Wirklichkeit nicht aus:
„Nach der Einheit waren wir wieder Lehrlinge. Viele fühlten sich fremd im eigenen Land. Sicher erklärt sich ihre Bitterkeit auch aus neu erfahrener Hilflosigkeit und Enttäuschung. Sie hatten vom Paradies geträumt und wachten auf in Nordrhein-Westfalen.“
Den Schluss dieser Aussage, mit der Gauck wohl auch das Bittere wieder ins rechte Maß bringen wollte, haben ihm manche übel genommen. Er hätte auch Baden-Württemberg sagen können. Ich dagegen finde den Vergleich zutreffend. Denn erstens hat Nordrhein-Westfalen so viel Einwohner wie die DDR zu ihrem Beginn; und zweitens hat das Land erhebliche Strukturprobleme meistern müssen und kann so durchaus als hoffnungsstiftendes, aber auch realistisches Beispiel gelten.
Nun kommt Joachim Gauck zu seinem eigentlichen Punkt: Befreiung war der erste Schritt. Nur dadurch wurde die Einheit in Freiheit möglich. Erst war der Ruf „Wir sind das Volk“, der uns die Würde zurück gab. Dann ließ der Ruf „Wir sind ein Volk“ die Sehnsucht nach Einheit wieder aufleben, die so lange verschüttet war – in Ost und West. Und er erinnert an die vielen Toten, die der Sehnsucht nach der Freiheit zum Opfer fielen.
Das Hauptthema des 9. November ist für Gauck die Freiheit. Mit der Freiheit machen sich die Deutschen wechselseitig ein Geschenk. Die Ostdeutschen den Westdeutschen, weil die friedliche Revolution des Herbstes 1989 ein eigenständiger deutscher Beitrag zur Freiheitsgeschichte der Völker ist. „Trotz aller Erblasten der Diktaturen können wir Euch im Westen nunmehr auf Augenhöhe begegnen – zwar ärmer, aber nicht als Gebrochene und ganz bestimmt nicht als Bettler.“ Die Westdeutschen den Ostdeutschen, weil die zivile Gesellschaft, die in vierzig Jahren Bundesrepublik entstand, ein Geschenk ist, an der wir durch die Einheit Anteil haben.
Mit dieser Rede, die ein Meisterstück politischer Rhetorik ist, hat Joachim Gauck den 9. November in den angemessenen geschichtlichen Zusammenhang gestellt und, ohne die schwierige Wirklichkeit des vereinten Deutschlands zu verschweigen, die Freiheit als jene Perspektive hervorgehoben, an der die Deutschen in Ost und West ihren eigenständigen Anteil haben und von der aus alles andere seinen angemessenen Platz erhält. Mithin hat diese Rede Bedeutung über den Tag hinaus.
Eine Monarchie bedarf der glanzvollen Form und der zeremoniellen Repräsentation, um überindividuelle Identifikation zu ermöglichen und zu befördern. Ihr Ausdruck ist der Gestus. Eine Republik dagegen, auch wenn sie die Selbstdarstellung nicht vernachlässigen und Grau nicht zu ihrer einzigen Farbe machen sollte, stiftet Identifikation vor allem durch Debatten und Formulierungen. Ihr Ausdruck ist das gesprochene Wort. Auch in Deutschland, in dem die politische Rede noch an Anspruch und Ansehen gewinnen muss, haben sich Ereignisse durch Debatten und Reden in unser Gedächtnis eingeprägt oder haben sich doch Ereignisse mit Reden fest verbunden. Aus den letzten anderthalb Jahrzehnten denke ich an die Rede Richard v. Weizsäckers zum 40. Jahrestag des Kriegsendes und der Chance für eine freiheitliche Entwicklung in Deutschland, an das unvergessliche Wort von Willy Brandt am Tag nach dem Mauerfall „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, an die Bundestagsrede Wolfgang Schäubles für Berlin als deutsche Hauptstadt. Ich denke an die vielen Reden, die im bewegenden Herbst 89 gehalten wurden und nenne als eindrucksvolles Beispiel von den wenigen, die aufgezeichnet und so erhalten wurden, die Rede von Marianne Birthler am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz. Und natürlich drängen sich mir Erinnerungen auf an die wenig routinierten, aber mit viel Vertrauen in die Kraft von Argumenten und Appellen geführten und nicht selten bis tief in die Nacht andauernden Debatten in der kurzen unvergesslichen Zeit der frei gewählten Volkskammer auf dem Weg in die Einheit.
Joachim Gaucks große Stunde als Redner und Teilhaber an der öffentlichen Debatte unserer Gesellschaft schlug danach, als seine Aufgabe ihn dazu herausforderte, die Last der Geschichte als Chance ostdeutscher Selbsterkenntnis und Selbstbefreiung zu begreifen und zugleich in das öffentliche Gespräch über die Wertegrundlagen der deutschen Gesellschaft, wie sie jetzt aus Ost und West entsteht, mit kritischem und selbstbewusstem Urteil einzugreifen. Seine Reden haben mitgebaut am Selbstverständnis der deutschen Republik, wie sie seit der friedlichen Revolution im Herbst 89 und seit der Herstellung der staatlichen Einheit vor zehn Jahren besteht. Dafür soll er heute durch einen von Bürgern für Bürger gestifteten Preis geehrt werden. |