Kultusminister Prof. Dr. Hans Maier
Rede anläßlich der Verleihung des Dolf Sternberger-Preises
am 11. November 2016 in Heidelberg
Lieber Bernhard Vogel,
sehr geehrter Kollege Masala,
Herr Abgeordneter Lamers,
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,
herzlich danke ich für die Verleihung des Dolf Sternberger-Preises für Politische Rede. Der Preis erfreut mich sehr, ich fühle mich sehr geehrt und zugleich herausgefordert, weil ich nun in einer Reihe stehe mit Persönlichkeiten wie Václav Havel, Norbert Lammert, Avi Primor, um nur die letzten drei Preisträger zu nennen.
Mein Dank gilt der Dolf Sternberger-Gesellschaft, ihrem Vorsitzenden Berhard Vogel, ihrer Jury, der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft, die die Verleihung des Preises in ihre Heidelberger Jahrestagung aufgenommen hat, der Universität Heidelberg, in deren schöner Aula wir tagen, und nicht zuletzt Carlo Masala für seine einfühlsame und liebenswürdige Laudatio. Das Preisgeld habe ich für einen jungen Künstler vorgesehen, dessen musikwissenschaftliche Dissertation unter anderem in Rußland erforderlich macht.
Dieser Preis ist nach Dolf Sternberger benannt, dessen Bild sie hier sehen. Ich kannte den renommierten Autor, Wissenschaftler und Literaturpolitiker gut. Ich lernte ihn zwar nicht so früh und so persönlich kennen, wie es Bernhard Vogel vergönnt war, der 1960 bei ihm promoviert wurde, und der in den folgenden Jahren unter seiner Ägide ja zunächst eine wissenschaftliche Laufbahn plante, ehe er sich der Politik zuwandte, die ihn bis heute nicht losgelassen hat. Im Mai 1967 trat Bernhard Vogel als Kultusminister in den Ministerrat des Landes Rheinland-Pfalz ein. Sternberger war stolz auf seinen Schüler, obwohl er ihn vorübergehend als Wissenschaftler verlor: „My first minister!“ rief er aus, wie dies britische Professoren in Oxford und Cambridge tun, wenn einer der ihren in ein Kabinett aufrückt.
Der Name Sternberger war mir zuerst in der Schülerzeit begegnet. Sternberger, das war der Herausgeber und Mitherausgeber zweier Zeitschriften, die in den Nachkriegsjahren im Westen Deutschlands einen beträchtlichen Einfluß entfalteten und die öffentliche Meinung formten: Die Wandlung hier in Heidelberg, Die Gegenwart in Freiburg. In der Wandlung publizierte Dolf Sternberger gemeinsam mit Wilhelm Emanuel Süskind und Gerhard Storz jene kritischen Artikel zur Sprache des NS-Staats, die später unter dem Titel Aus dem Wörterbuch des Unmenschen als Buch erschienen und weite Verbreitung fanden. Sie wurden zur Richtschnur einer ganzen Generation junger Journalisten.
Als ich nach dem Abitur bei der Badischen Zeitung in Freiburg eine Schnupperlehre machte – übrigens in einer Reihe mit Günter Gaus und Günther Gillessen – wurden uns diese Artikel von dem grimmigen und tüchtigen Redakteur Oskar Stark, dem letzten Chef der Frankfurter Zeitung vor ihrem Verbot 1943 ans Herz gelegt und zur Lektüre empfohlen. Jahrzehntelang konnte man sich in Deutschland keinen verantwortlichen Publizisten vorstellen, der die hier namhaft gemachten Nazi-Wörter unkritisch weitergebraucht hätte, der also von „Ausrichtung“ und „Schulung“, von „Kulturschaffenden und ihrem Einsatz“, von „Menschenbehandlung“ und „Betreuung“ gesprochen hätte, der etwas „untragbar“ fand oder auf seine „charakterliche Eigenart“ prüfen wollte, der etwas für „echt“ oder gar „echt einmalig“ erklärte.
Das Ziel der Kritiker war klar: Es ging um die innere Überwindung des noch weit in die Bundesrepublik überlappenden, noch lange gedankenlos gebrauchten Nazi-Deutsch. Die Herrschaft des Unworts sollte gebrochen werden. Dem Autor und Publizisten Sternberger war dieser Auftrag, diese Aufgabe auf den Leib geschrieben, war er doch überzeugt davon, daß die Auflösung der staatlichen Ordnung, der Untergang humaner Werte mit dem Verderb der Sprache beginnt.
Später habe ich als junger Politikwissenschaftler Dolf Sternberger persönlich kennengelernt, aus der Nähe erlebt, bei Tagungen der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft, bei Reden und Diskussionen, bei Sitzungen, die er leitete. Sternberger war ein meisterlicher Sitzungsleiter, leicht näselnd mit unverkennbar hessischem Sprachton – er kannte den Datterich von Niebergall auswendig – erteilte er den Anwesenden das Wort und entzog es auch wieder, falls die Beteiligten zu lange redeten. So zum Beispiel, als ein Diskutant, übrigens ein berühmter Gelehrter, mit Leidenschaft in immer gleichen Sätzen gegen einen Kollegen polemisierte. „Aber, Herr Kollege“, bescheid ihn Sternberger, „wir sind beim Tagesordnungspunkt Verschiedenes, nicht Gleiches!“
Das Feld der Politischen Wissenschaft als Fach war damals noch jung. Die Namen schwankten: Politikwissenschaften, Wissenschaftliche Politik, Politologie – es war noch wenig eingebürgert. Es gab viele Widerstände alter, etablierter Fächer. Manche hielten die Politikwissenschaft für einen amerikanischen Import mit politischer Meistbegünstigungsklausel, so mein neuhistorischer Lehrer Gerhard Ritter in Freiburg, der mit meinem politikwissenschaftlichen Doktorvater Arnold Bergstraesser heftig zusammenstieß. Ich versuchte zu vermitteln, machte Vorschläge zur Zusammenarbeit, zur Ergänzung, zum wechselseitigen Austausch der benachbarten, nahe verwandten Fächer, was unter anderem den Beifall von Hermann Heimpel fand. Und von dieser Zeit an fühlte ich mich immer, bis heute, in der Mitte zwischen Geschichtswissenschaft und Politikwissenschaft.
Von verschiedenen Orte sandte das Fach verschiedene Botschaften aus. In Tübigen entwickelte Theodor Eschenburg eine Form institutioneller Politikbetrachtung. Sie wurde geadelt durch wöchentliche Kommentare in der Zeit. In Freiburg kümmerte sich Arnold Bergstraesser um die, wie er es nannte, res gerendae. Politikwissenschaft verstand er als Analyse der Gegenwart und als Handlungsanleitung für die Zukunft. Nicht nur die internationale Szene kam bei ihm in den Blick, sondern er machte auch erste Schritte zur Erforschung der Dritten Welt.
Dolf Sternberger in Heidelberg sorgte sich um die Sprache, um die politische Theorie; auch ihn adelten Leitartikel, diesmal in der FAZ. Anderswo, so in Würzburg, Köln, Hamburg, knüpfte man an die überlieferte gesamte Staatswissenschaft an, die Verbindung zur Jurisprudenz, aber auch zur Volkswirtschaftslehre, zur Geschichtswissenschaft und Soziologie wurde gesucht und erprobt.
Prominente Politiker und Politikberater lehrten das Fach. Heute fast vergessen: Heinrich Brüning, Otto Suhr, Carlo Schmid, Eugen Kogon. Politikwissenschaftliche Zentren entstanden, so in Berlin um die aus der Emigration zurückgekehrten Gelehrten und Autoren Ernst Fraenkel und Richard Löwenthal, oder in München um den Juristen und Geschichtsphilosophen Eric Voegelin und seine Schule. Auch die Frankfurter Horkheimer und Adorno, obwohl auf soziologischen Lehrstühlen sitzend, wirkten in die Politikwissenschaft hinein. Bergstraesser in Freiburg stand mit ihnen in Verbindung; sie hätten ihn gern nach Frankfurt berufen. Verbindungen liefen auch nach Basel, wo Karl Jaspers seit 1948 lehrte. Ihm war Dolf Sternberger wissenschaftlich und publizistisch eng verbunden; beide teilten aber auch ein persönliches Schicksal, weil sie mit jüdischen Frauen verheiratet waren. Diese Frauen hatten das Dritte Reich überlebt, auch weil ihre Männer sich nicht von ihnen trennten. Aber wenn man sich in dieser Zeit schlafen legte, lagen bei beiden Ehepaaren die Giftkapseln auf dem Nachttisch.
Existenzerfahrungen im Nazi-Staat hatten den Feuilletonisten Dolf Sternberger zu einem politischen Menschen gemacht. Leidenschaftlich setzte er sich nach 1945 für Recht und Freiheit, für eine vernünftige Ordnung im Gemeinwesen, für eine umfassende politische Bildung aller Staatsbürger, vor allem aber der jungen Menschen, ein. Politische Wissenschaft und politische Bildung hingen für ihn untrennbar zusammen. Das war auch bei den anderen Richtungen des Fachs in der damaligen Bundesrepublik so. Alle waren sie verbunden in einem entschlossenen: „Nie wieder!“
1947 erhielt Sternberger einen Lehrauftrag für Politische Wissenschaft an der philosophischen Fakultät dieser Universität; 1955 wurde er zum Honorarprofessor, 1960 zum persönlichen Ordinarius, 1962 zum ordentlichen Professor ernannt. In seinen Vorlesungen, seinen Aufsätzen, seinen Büchern folgte er dem Modus, der sich in seiner Arbeit als Autor geistes- und kulturgeschichtlicher Werke herausgebildet hat. Von der Betrachtung der Worte schritt er heran zur Theorie der Politik und berührte zuletzt die Erfahrungen der Geschichte.
„Diesen Spuren gehe ich in den folgenden Untersuchungen nach“, schrieb er in den Vorbemerkungen zu seinem Hauptwerk „Drei Wurzeln der Politik“ 1978: „Zuerst den Wortbedeutungen, die als ein Leitfaden dienen, er leitet zu den Theorien; schließlich führt der Weg aus den Räumen des Gedankens in das Dickicht der Geschichte hinaus.“
Das „Dickicht der Geschichte“: Sternberger hat es nie heuristisch-technisch aufzulösen versucht. Er schrak auch vor den Auflösungsversuchen anderer Kollegen zurück. Zwar rückte er deutlich ab von der Auffassung der älteren Geschichtswissenschaft, daß Politik eine Kunst und keine Wissenschaft und daher der wissenschaftlichen Analyse unzugänglich sei. In seinem Werk hatte auch die empirische Forschung ihren Platz, vor allem in seinen Studien zum Wahlrecht und zum Parlamentarismus. Aber für „die technische Seite des Bearbeitens von Politikfeldern und die Implementierung politischer Vorgaben im administrativen Verfahren“ – ich zitiere Herfried Münkler – „hat sich Sternberger kaum interessiert“. Sein Revier blieben die Zusammenhänge von Sprache und Politik – und dieses Feld beherrschte er unter seinen politikwissenschaftlichen Kollegen in Deutschland jahrzehntelang als König. Man lese nur einmal die Anmerkungen zu den „Drei Wurzeln der Politik“ – das ist ein eigener Band von über 350 Seiten: Man staunt darüber, mit welcher Sicherheit sich Sternberger hier im klassischen Griechisch und Latein und in den modernen Sprachen bewegt, wie er Zwiesprache hält mit den Großen der politischen Theorie von Platon und Aristoteles bis zu Kant und Hegel, als seien sie Zeitgenossen.
Dabei war es Sternberger klar, daß es nicht genügte, die Barbarismen vergangener Zeiten aus den Hörsälen, Seminaren, Redaktionsräumen und Parlamenten zu verbannen, wie er das zusammen mit den Kollegen Storz und Süskind mit dem “Wörterbuch des Unmenschen“ versucht hatte. Es musste für die neue Demokratie auch eine eigene neue Sprache gefunden werden. In Begriffen der Rhetorik gesprochen: Neben der Abwehr des Abusus, der Überwindung der Barbarolexis war ein Neuanfang nötig – ein Exordium und Prooemium demokratischen Sprechens.
Das war schwierig, weil die deutsche Sprache sich nach dem Dritten Reich verständlicherweise nur mit sehr gedämpfter Trommel Klang vernehmen ließ. Vor allem die Literatur vermied den „hohen Ton“. Für Jahrzehnte wurde das genus humile, die Alltagssprache, fast zum einzig erlaubten Tonfall der Poesie. Wer eine Oktave höher tönte, wie es Peter Handke und Botho Strauss versuchten, der wurde barsch zur Ordnung gerufen. Gedämpft zu reden schien nach den schrillen Tönen der Goebbels-Propaganda das oberste Gebot zu sein. Nur gelegentlich lockerte der Dialektgebrauch die Fronten auf. Dialekte galten in dieser Zeit nach dem abgehackten Hochdeutsch der Diktatur als unschuldige Alternativen.Wer die Nachkriegspolitik noch im Ohr hat – es gab ja damals nur ein Radio, aber noch kein Fernsehen – der erinnert sich lebhaft an die damaligen politischen Dialekte: Das Hanseatische von Kaisen und Brauer, das Schwäbische von Heuss, Gerstenmaier, Kiesinger, Carlo Schmid, das Fränkische von Ehard und Dehler, das Rheinische von Adenauer, und nicht zuletzt an das Bayerische von Franz Josef Strauss.
Nun kommt aber die politische Rede ohne Affekte, ohne den Ausdruck von Emotion und Leidenschaft und ohne Pathos nicht aus, so wie Nationalflaggen ja nicht einfach Plakaten ähnlich stillstehen, sondern sich bäumen und im Wind flattern, und Nationalhymnen eben nicht leise gesprochen, sondern laut gesungen werden. „Allons enfants de la Patrie“, das kann man nicht murmeln; dafür tönen und treiben diese Verse zu sehr. Sternberger war sich dieser Problematik sehr bewusst. Er wünschte ja immer – so ein später Buchtitel – „ein Bürger zu sein“ und für die Bürgergemeinde auch das Wort zu ergreifen. Schon in der „Wandlung“ hatte er versucht, an ältere freiheitliche Traditionen deutscher Geschichte anzuknüpfen. Gern bezeichnete er sich mit einem Schiller-Wort als „Staatsfreund“. Zugleich suchte er nach neuen Ansatzpunkten für eine demokratische Rhetorik. Das gelang ihm schließlich mit zwei Wortfunden, die er auch dank seiner publizistischen Feder in die Öffentlichkeit transportieren konnte, mit dem Wort „Frieden“ und dem Wort „Verfassungspatriotismus“.
Frieden – dieses Wort stellte Sternberger bewusst in die Mitte seiner politischen Theorie. Er war darin der konsequenteste unter seinen Kollegen. Seine Heidelberger Antrittsvorlesung beginnt mit den nachdrücklichen Worten: „Der Gegenstand und das Ziel der Politik ist der Friede. Das Politische müssen und wollen wir zu begreifen versuchen als den Bereich der Bestrebungen, Frieden herzustellen, Frieden zu bewahren, zu gewährleisten, zu schützen und freilich auch zu verteidigen. Oder, anders ausgedrückt: Der Friede ist die politische Kategorie schlechthin. Oder, noch einmal anders ausgedrückt: Der Friede ist der Grund und das Merkmal und die Norm des Politischen, dies alles zugleich.“
Das richtet sich gegen diejenigen, die den Konflikt, den Ausnahmezustand, das Freund-Feind-Verhältnis zum Ausgangspunkt des Politischen machten – eine Reihe, die für Sternberger schon bei Machiavelli und Hobbes begann und sich bis zu Max Weber und Carl Schmitt erstreckte. Sternberger bezog damit – wie die Wendung „den Frieden verteidigen“ zeigt – keine pazifistische Position. Aber für ihn hatte der Friede als Ziel der Politik höheren Wert als die Machtlogik politischer Selbstbehauptung von Nationen, Persönlichkeiten und Staaten. Sternberger nähert sich in seinen Ausführungen der alten Definition des Friedens als der tranquillitas ordinis, der Ruhe, die aus der inneren und äußeren Ordnung kommt. Vor allem reicht für ihn Politik, die sich als Friedensschutz und Friedewahrung versteht, mitten in die bürgerliche und private Normalität des Lebens hinein; sie ist etwas für alle Tage, für jeden Einzelnen – nicht nur für Völker, für Ausnahmezustände, für kriegerische und chaotische Zeiten. Vom alltäglich Normalen her, nicht vom Ausnahmefall aus muß die Staatstheorie, die Politik aufgebaut werden – das war Sternbergers innerste Überzeugung.
„Verfassungspatriotismus“, das ist ein zweiter Begriff, der sich mit dem Namen Dolf Sternbergers verbindet. Er hat ihn 1982 geprägt, in einer Rede bei der 25-Jahr-Feier der bayerischen „Akademie für politische Bildung“ in Tutzing. Mögliche Einwände gegen die neue Wortbildung ahnte er und nahm sie vorweg; ich zitiere: „Die Verbindung von Patriotismus und Verfassung mag manchem ungewöhnlich vorkommen, ungewohnt ist sie sicher.“ War nicht des Deutschen Vaterland im übersteigerten Nationalismus des NS-Staates untergegangen? Lebte das Staatsvolk des vormaligen Deutschen Reiches nicht inzwischen in zwei Staaten, weltanschaulich voneinander abgegrenzt, durch einen Todesstreifen getrennt? „Das Vaterland“, so Sternbergers Fazit, „ist in der Tat schwer zu finden, dasjenige, welches eine natürliche Empfindung der Zugehörigkeit, der fraglosen Identifizierung erlaubte und zu erwecken imstande wäre“.
Geblieben war freilich nach Sternbergers Meinung der Patriotismus, nicht zu verwechseln mit dem längst diskretitierten Nationalismus; geblieben war das Verlangen nach Zugehörigkeit, Einwurzelung, Integration. Menschen müssen irgendwohin gehören. Sie müssen sich ihrer Heimat verbunden fühlen, sich mit ihr identifizieren können. Beifällig zitiert Sternberger das Diktum von Ralf Dahrendorf: „Patriotismus ist Voraussetzung des Weltbürgertums.“ Aber auf welche staatliche Form sollte sich dieser Patriotismus im Deutschland von 1982 beziehen? Sternberger, der eminente Kenner älterer Autoren, findet einen Ausweg: Er entdeckt im Patriotismus der Vergangenheit neben dem natürlichen ein politisches Element. Er zitiert Thomas Abbt in einem Text aus dem Jahr 1761; dort heißt es: „Die Stimme des Vaterlandes kann nicht mehr erschallen, wenn die Luft der Freiheit entzogen ist.“ Und er zitiert La Bruyère: „Es gibt kein Vaterland in der Despotie.“
Das heißt, ins Positive gewendet: Das Vaterland in der Zeit kann immer wieder neu aufgebaut werden, auch wenn das Vaterland im Raum seine alte Gestalt verloren hat. Aber wodurch wird es neu aufgebaut? Durch eine freiheitliche Verfassung. „Diesen Begriff des Vaterlandes“, so urteilt Thomas Gutschker, „spielt Sternberger gegen eine preußische Tradition aus, die allein den Tod fürs Vaterland kennt. Er zeigt, daß die einseitige Beschränkung auf das Heldentum nur den Soldaten und Untertanen anspricht, nicht aber den freien Bürger.“ Noch einmal Sternberger: „Wir werden dieses ältere und ursprünglichere Verständnis von Patriotismus gewiss nicht ohne Verwandlung zu unserer Maxime machen. Wir werden das kriegerische Motiv, wir werden die altrömische Attitüde streichen, den Heroismus reduzieren. Wir werden gewiss auch ein Element natürlicher Heimatlichkeit wieder einführen. Aber es bleibt dabei, das Vaterland ist kein dunkles mythisches und mystisches Wesen, worin alle Personalität, alle individuelle Freiheit, versänke. Das Vaterland ist ganz im Gegenteil gerade dadurch ausgezeichnet, dass wir darin die Luft der Freiheit atmen können, das heißt, mit Abbts Worten: dank seinen heilsamen Gesetzen. ‚Gesetze’ – das ist das Wort Montesquieus, der den Geist der Gesetze geschrieben hat, Gesetze, das heißt in moderner Sprache: die Verfassung.“
Ich komme zum Schluss. Was würde Dolf Sternberger, lebte er noch, zum heutigen Deutschland, zur heutigen politischen Lage sagen? Er würde wohl staunend zur Kenntnis nehmen, dass die Verfassung, das Grundgesetz, nun schon 67 Jahre in Geltung ist und dass mit seiner Hilfe sogar „die Wende“, der große Kraftakt der Wiedervereinigung, bewältigt werden konnte. Die Verfassung ist den Deutschen im Lauf der Zeit ans Herz gewachsen – oder, wenn das zu pathetisch klingt: sie hat sich als Instrument erwiesen, das gut in ihrer Hand liegt. Auch das „Element natürlicher Heimatlichkeit“ würde Sternberger wohl im wiedervereinigten Deutschland entdecken und wiederfinden. Denn nach wie vor wollen die Deutschen zuerst Hessen, Pommern, Württemberger, Pfälzer, Bayern sein – wenn nicht gar zuerst Eutiner, Greifswalder, Amberger, Freiburger, Ahlener, Schopfheimer, Tirschenreuther – Sie können die Reihe fortsetzen. Müsste er nun eine neue „Wandlung“ gründen, eine neue Sammlung übler und zu vermeidender Worte anlegen, für den Verfassungspatriotismus kämpfen als Alternative zu neu auftretenden „völkischen“ Fantasien?
Anlaß dazu gäbe es heute wohl genug. Ausbrüche von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus könnten den Weltbürger Sternberger erschrecken. Gänzlich unvorbereitet wäre er wohl auch für den Umgang mit den neuen Medien. Was Blogger da täglich aussprudeln und manchmal ausspucken, erschiene ihm wohl als eine andere, fremde Welt, meilenweit entfernt von den ernsten, oft treuherzigen Leserbriefen seiner Zeit in SZ, FAZ, WELT und ZEIT mit behutsamem Tonfall und korrekter Grammatik. Inzwischen kann man mit der neuen Software VoCo sogar Sprachaufnahmen manipulieren.
Im Reformations- und Lutherjahr stürmen ambivalente Empfehlungen auf die Leser und Hörer ein: Einerseits sollen Politiker „dem Volk aufs Maul schauen“, wie es Martin Luther forderte – was der jüngste Bücherpreisträger Marcel Beyer noch einmal gesteigert hat, indem er in seiner Dankrede in Darmstadt vor kurzem neben Edeldeutsch und Dünkeldeutsch auch Kalbsdeutsch, Kartoffelsuppen- und Semmelknödeldeutsch zu beachten empfahl. Anderseits gibt es auch berechtigte Mahnungen zur Differenzierung. Habituelle Regelverletzungen nutzen sich ab; wutbürgerliches Drauflos- und Dauerreden ermüdet nach kurzer Zeit. Der Grundsatz „Ich sag dir alle Schand“ mag im Familien- und Freundeskreis unter Privaten gelten – er eignet sich aber nicht für den parlamentarischen und justiziellen Gemeingebrauch.
Öffentliche Rhetorik braucht eine Form. Alles beginnt mit der Wahl der richtigen Wörter. Steckt nicht sogar in der vielbeschrieenen Political Correctness eine leise Mahnung zum Anstand? „Das sagt man nicht!“ Dieser Grundsatz ist schon ganz nahe an dem anderen, wichtigen, in einer Gemeinschaft unentbehrlichen „Das tut man nicht!“ Gut wäre es, wenn vieles im Umgang unter Bürgern wieder selbstverständlich würde, wenn die Regeln des Zusammenlebens stillschweigend, ganz ohne Zutun von außen, beachtet würden. Dann müsste bei rhetorischen Grenzüberschreitungen, politischen Entgleisungen niemand gleich den moralischen Zeigefinger heben.
Eines ist sicher: Dolf Sternberger würde auch heute dem Wechselspiel von Reden und Handeln in der Öffentlichkeit ebenso gespannt lauschen wie in seiner eigenen Lebenszeit. Das Thema hat ihn ja lebenslang beschäftigt. Schon in seiner Dissertation von 1931 setzte er sich mit Heideggers Sprachphilosophie auseinander. Er trat der Tendenz entgegen, Sprache in der Vorzeit zu verankern, sie zu einem vormenschlichen Urwesen zu machen. Dem setzte er, gut aristotelisch, die These vom Ursprung der Sprache aus der menschlichen Geselligkeit entgegen.
Sprache ist immer Sprache des Menschen. Nicht „die Sprache spricht“, so Heidegger – der Mensch spricht, der Mensch als zoon logon echon, als das Wesen, das Sprache hat. Ganz gewöhnliche Worte, das hat auch die Nazi-Zeit gezeigt, können durch die, die sie sprechen, gehoben, aber auch verdorben werden. Auch der Stil ist ja am Ende nichts anderes als der Mensch.
Der Dolf-Sternberger-Preis ist ein Preis für politische Rede. Ich freue mich darüber, dass ich ihn heute entgegennehmen durfte. Und ich wünsche, daß von dieser Veranstaltung auch ein Impuls ausgeht, Dolf Sternberger neuerlich zu lesen, sein Werk zu entdecken, sein Sprachdenken zu würdigen. Man tut auch heute gut daran. |