Über freie und unfreie Rede. Andeutungen.
Wenn man über etwas spricht, das mit einem selbst zu tun hat, müßte man doch frei sprechen können. Daß die freie Rede schöner wäre als die vorgelesene, ist sicher. Die Zuhörer würden Zeugen des Entstehens der Satze. Schwieriges schwierig sagende Satze entstünden dann langsamer, deutlich schwerer schnaufend als ein paar diskurssicher mitschwimmende Redensarten.
Frei zu reden - für den Redenden eine Möglichkeit, zu erfahren, ob er noch identisch sei mit sich. Die freie Rede - eine fabelhafte Hochzeit der Erfahrung mit der Spontaneität. Aller Geschichte mit dem jetzigen Augenblick. Das ist doch bei uns sozusagen Geistigen die Crux: daß wir nie da sind, wo wir gerade sind. Wenn wir in der Vergangenheit sind, fehlt die Hauptsache, die Gegenwart. Wenn wir in der Gegenwart sind, fehlt die Hauptsache, die Vergangenheit.
Wie könnten wir uns erleben, wenn wir alle nur noch frei reden würden! Die Rede trage uns, wie Luft etwas trägt, das fliegen kann. Und warum brichst du dann nicht endlich aus aus der Vorlese-Routine? Es gibt immer andere Gründe, nicht frei zu reden. Heute zum Beispiel muß ich mich sorgfaltig an das Aufgeschriebene halten, weil ich viel verschweigen muß. In jedem Jahr sind es andere Satze, die unmöglich sind.
Als ich erfuhr, daß ich heute hier und aus welchem Anlaß sprechen dürfe und solle, dachte ich sofort: Jetzt sprichst du endlich über ein Thema, das du schon lange vor dir herschiebst, für das du täglich mehr als einmal Erfahrungen machst. Es ist das Thema: Gewissen und Öffentlichkeit. Vielleicht sogar: über die Veröffentlichung des Gewissens. Und, dachte ich, du sprichst frei. Deine Gewissenserfahrungen reichen 60 Jahre zurück, das müßte reichen. Und das waren von Anfang an Erfahrungen mit der Veröffentlichung dessen, was im Gewissen sich bildete.
Gewissen - das ist ja ein Wort für den Prozeß; in dem entschieden wird, wie das, was du tust und denkst, zu bewerten ist, beziehungsweise ein Prozeß, den du in dir so lange betreibst, bis du es mit dem, was du tust und denkst, aushältst. Du bist ja als der Bewertende kein bißchen souveran. In dir werden im Lauf der Jahre immer mehr Stimmen laut, die mitreden, mitentscheiden, wenn dein Gewissen sich regt.
Eine ganz wichtige Stimme kam am Anfang aus dem Beichtstuhl. Ich habe doch meine ganze Kindheit ausschließlich im Beichtstuhl verbracht. Mir kommt vor, als hatte ich viel weniger Zeit mit Sündigen als mit Beichten verbracht. Als ich etwa 15 war, war mein katholisch gepflegtes Gewissen am Ersticken. Die Absolution war immer abhängig von der Reue, die Reue war abhängig vom Vorsatz, der Vorsatz - der Vorsatz nämlich, die und die Todsunde nicht mehr zu begehen -war im Ernst nicht möglich. Durfte ich ihn zum Schein fassen?
Das ist doch keine Reue und kein Vorsatz, wenn man schon weiß, daß man wieder Sündigen wird. Ich hatte keinen, mit dem ich darüber sprechen konnte. Also sprach ich mit meinem Schiller. Lieh mir von ihm die der Moral trotzig hingefetzten Kündigungszeilen:
Kannst du des Herzens Flammentrieb nicht dämpfen, So fordre, Tugend, dieses Opfer nicht.
Ein Effekt dieses andauernden Gewissenskampfes: Als die Organisationen des Dritten Reiches mit ihren Parolen auf uns eindonnerten, war die Frequenz des Du sollst und Du sollst nicht schon durch die Zehn Gebote besetzt. Diese Zehn Gebote waren ja Tag und Nacht zu erfüllen oder zu verfehlen. Und als verfehlte waren sie noch gegenwärtiger denn als erfüllte. Was ein deutscher Junge sollte oder nicht sollte, war dagegen eher Hokuspokus, überhaupt Firlefanz.
Dann konnte ich ein Buch erwerben, das auf schwarzblauem Einband den Titel in goldenen Buchstaben präsentierte: Volks-Nietzsche. Inhalt: Also sprach Zarathustra. Willkommener konnte mir kein Buch sein. Im Ton anklingend an Psalmen oder Paulus-Briefe, aber inhaltlich ein Befreiungsangebot. Ich war ja im Religionston aufgewachsen.
Natürlich gehörte zur Befreiungstonart auch Goethe: von "Wen du nicht verlassest, Genius", bis "Bedecke deinen Himmel, Zeus". Dieser Ton störte die Beichtbereitschaft. Du hast dich doch schon lange geschämt dafür, daß du diese leblose Beichtsprache nachkaust. Aber solche Stimmungen sind natürlich im Beichtvokabular vorgesehen; die Wörter, mit denen du auf Glaubenszweifel zu reagieren hast, kennst du. Los, sag sie auf. Wer bist du überhaupt, daß du frei sein willst!
Die Schule zum Beispiel half nicht. Die übte ein in eine zweite Künstlichkeit. In den Aufsätzen in der Schule kam ich nur artistisch vor, ich erfüllte die Erwartungen meiner Lehrer. Wie man das macht, lernt man ja. Das Gewissen blieb innen. Und da ist es geblieben. Ich beklage das nicht. Ich weiß nicht einmal, ob heute ein Kind ganz anders aufwächst. Ob sich heute das Gewissen im Diskurs bildet?
Ein Ergebnis dieser Gewissensbildung ist, daß ich das, was in meinem Gewissen stattfindet, nicht veröffentlichen kann. Ich kann sagen, daß ich mein Gewissen für nicht vorzeigbar halte. Das, was heraus darf, ist dann das Zurechtgemachte, das dem Soll Entsprechende. Die Welt hat Anspruch nur auf das Bild von mir, das sie bei mir bestellt. Ich entspreche der Welt so,
wie ich früher den Lehrern entsprach. Den Pfarrern entsprach. Man nennt das, glaube ich, Sozialisation.
Das heißt, man weiß in jedem Augenblick und unter allen Umstanden, was und wieviel man vorzeigen darf, kann, soll, muß. Schriftsteller wird man vielleicht auch deshalb, weil man darunter leidet, daß man fast nichts von sich zeigen darf. Das Sagbare ist ja nur die Spitze eines Unsäglichkeitsberges. Den Bereich des Sagbaren ein wenig zu erweitern, das ist ein Traum, ein Bedürfnis, ein Zwang. Und sei's durch freie Rede.
Es ist immer die Nichtabereinstimmung mit etwas Herrschendem, was dich zwingt, aus deinem Gesamtbestand das Mögliche auszuwählen. Jeder Teilnehmer am jeweiligen Diskurs lernt ganz von selbst, was gerade und wie es gesagt werden darf. Der Diskurs ist der andauernde TUV, der das Zugelassene etikettiert und den Rest tabuisiert.
Ein Beispiel: Steffen Heitmann, sachsischer Justizminister, soll, so will es der Kanzler, Bundespräsident werden; nach einer Serie von Interviews ist der Mann erledigt. Die Süddeutsche Zeitung, die als liberal gilt, fragt Heitmann: "Sorge um Kinder und Selbstverwirklichung der Frau seien unvereinbar, haben Sie gesagt." Heitmann: "Unvereinbar habe ich nicht gesagt. Aber eines geht auf Kosten des anderen. Dieser zweite Satz ist wichtig. Man muß, wie bei anderen meiner Zitate auch, den Gesamtzusammenhang sehen. Es wird mir immer etwas von Frauen, Küche und Herd in den Mund gelegt. Das habe ich nun wirklich nirgends gesagt." Suddeutsche Zeitung: "Kinder, Küche, Kirche?" Heitmann: "Nein, das entspricht nicht meinem Frauenbild." Der Arme kennt nicht einmal das Reizklischee, mit dem er erledigt werden soll. Das muß ihm der liberale Erlediger vorkauen. Irgendwann in diesem Interview sagt Heitmann: "Wir müssen ein normales Volk unter normalen Völkern sein." Später, erst gegen Ende des Interviews sagt er: "Wir müssen lernen, mit dieser furchtbaren Geschichte, die wir haben, umzugehen." Darauf der Interviewer "'Normal' umzugehen? Wie soli man normal umgehen mit Millionen Morden?"
Also, da fiel dem ein, daß Heitmann 10 oder 15 Antworten vorher das Wort "normal" als Adjektiv gebraucht hat, "normales Volk unter normalen Völkern sein". Jetzt sagt Heitmann: "Lernen, mit dieser furchtbaren Geschichte, die wir haben, umzugehen." Aber der Interviewer tut, als habe er einen adverbialen Gebrauch gehört: ",Normal` umzugehen?" Und jetzt kommt ihm der Satz so, wie er zur Zeit gesagt werden muß, wenn man als politisch korrekt gelten will: "Wie soll man normal umgehen mit Millionen Morden?" Damit ist der Interviewte in der Ecke, in die er gehört.
Normal umgehen mit Morden?! Das ist ein schöner Manipulationsschritt von "ein normales Volk unter normalen Völkern sein" zu "normal umgehen mit Millionen Morden". "Normal" als Adverb bringt Heitmann in die Nahe zu Tätern. Das ist der Routineschritt des Zeitgeistes. Wer ihn macht oder mitmacht, weiß wieder einmal überhaupt nicht, was er tut. In diesem Fall der Redakteur der so großen wie liberalen Zeitung. Der Chefredakteur des Stern lieferte dazu die nächste Schärfestufe. "Verbale Brandsätze" habe Heitmann geworfen. "Verbale Brandsätze"! Damit ist der Kandidat auf das Schlimmste verbandelt mit Rostock, Mölln, Solingen.
Daß ich diese Praxis für bedenklich halte, heißt überhaupt nicht, daß sie bedenklich sei, das bestatigt nur, was man schon weiß: Statt links bin ich jetzt rechts. Und da muß ich das doch so sehen, klar. Das ist der Vorteil der Linksrechtsschiene, man weiß dann immer gleich, warum einer das sagt, was er sagt. In diesem Klima frei reden? Ich hatte in jedem Jahr Gründe finden können, warum ich mich nicht der freien Rede anvertrauen kann, obwohl ich nichts lieber mochte als das. Zur Zeit ist es also der Tugendterror der political correctness, der freie Rede zum halsbrecherischen Risiko macht.
"PC oder: Da hört die Gematlichkeit auf` hat Dieter E. Zimmer vor über einem Jahr in der Zeit seinen Aufsatz über den neuesten "Tugendterror" überschrieben. Darin heißt es: "Wer das Lager der PC in einem Punkt verläßt, wird sofort in das des Feindes eingewiesen. Sie ist zudem durch und durch moralisch: Das Inkorrekte ist nicht nur falsch, es ist böse." Oder, positiv gesagt: Der politisch Korrekte ist nicht nur der Bessere, er ist der Gute.
Natürlich lebt die deutsche Version der political correctness am meisten von den zwei Diktaturen, die in diesem Jahrhundert unsere Geschichte bestimmten. für Vergangenheitsbewältigungsanlaß ist gesorgt. Damit meine ich nicht das, was die Justiz tun kann. Ich meine den täglichen Umgang mit diesem doppelten Erbe in meinem Bewußtsein, in meinem Gewissen.
Ein Beispiel für die Tonart, in der DDR-Vergangenheit aufgearbeitet wird: Fritz J. Raddatz in der Zeit, 1993, über Heiner Millers und Christa Wolfs Stasi-Kontakte: "Wenn aber Thomas Manns Satz gilt, ,Schreiber, das heißt, sein Herz waschen', dann kann man mit dem Herzkrebs der Unaufrichtigkeit nicht schreiben." Hier wird man Zeuge, wie einer sich nicht nur mit einem großen moralisch legitimiert, sondern gleich auch noch sprachlich infiziert. Daß Schreiben Herzwäsche sei, ist ja schon kühner gesagt als nötig, wie brav hat Ibsen diesen Gedanken formuliert, aber dann führt die Unaufrichtigkeit zum Herzkrebs oder der Herzkrebs zur Unaufrichtigkeit - unser Genitiv macht's möglich.
Mit diesem Herzkrebs-Befund gehört sein Entdecker in den Pschyrembel, morbus Raddatz, oder einfach, wer's hat, der hat nicht mehr den Alzheimer, sondern den Raddatz. Raddatz
stiftet Moral. Brecht wird bezeichnet als "wahrlich ein Charakterliliputaner". Und mit dem Brustton des Charakterriesen: "Das ist ja nicht wahr, daß Kunst nichts zu tun habe mit Gesittung." Und: "Ohne Humanum keine Kunst." Und: "Man macht doch keine Kumpanei mit Lumpen?"
Ms Motto dient diesem Aufsatz ein Thomas-Mann-Satz: "Ein Künstler ohne Lebenssittlichkeit ist nicht möglich; der Werkinstinkt selbst ist ihr Ausdruck, ist ,Tüchtigkeit`, ist Sozialität, und zeitige er das lebensabgewandteste Werk." Damit ein weiteres Mal erlebt werden kann, daß nichts ohne sein Gegenteil wahr ist und damit des Meisters Bild und Funktion nicht zu platt sittlich ausfalle, muß ich ergänzend einen Thomas-Mann-Satz aus einer anderen Schublade dazuzitieren: "Das Soziale ist ein sittlich sehr fragwürdiges Gebiet; es herrscht Menagerieluft darin."
Ich finde, diese von einer feinen Nase abhängige Sittlichkeit gehört bei Thomas Mann schon dazu. Ich bin dankbar für den moralischen Pluralismus im Leben Thomas Manns. Auch hat das den Vorteil, daß ihn praktisch alle Lager zitieren können, wenn sie anderen etwas vorwerfen müssen. Es ist nach zwei Diktaturen auf deutschem Boden sicher mehr als ein Gesellschaftsspiel, wenn Intellektuelle das Gewissen anderer Intellektueller Öffentlich überprüfen. Wenn sogar ein Jürgen Habermas, dessen moralische Sensibilität nicht modeanfällig ist, solche Vorwurfe formuliert. Auch in der Zeit. Über Martin Heidegger und Carl Schmitt als "große Jasager von 1933" schreibt er: "Sie haben das Illusionäre ihres verstiegenen Vorsatzes erfahren, weigerten sich aber post festum, ihre Schuld oder auch nur ihren politischen Irrtum Öffentlich einzugestehen." Aber in seinem Vorwort zu Victor Farias' Heidegger-Buch formuliert er so: "Als Nachgeborene, die nicht wissen können, wie sie sich unter Bedingungen der politischen Diktatur verhalten hatten, tun wir gut daran, uns
in der moralischen Bewertung von Handlungen und Unterlassungen wahrend der Nazi-Zeit zurückzuhalten." Sendet Habermas auf Medienfrequenz, siegt die Abneigung, im wissenschaftlichen Gehege mobilisiert er seine Urteilskraft gegen seine Abneigung. Das heißt, im Unterschied zum straflüsternen Moralgiganten Raddatz sieht Habermas das Werk, zum Beispiel die "Substanz" von "Sein und Zeit", nicht durch politisches Fehlengagement diskreditiert.
Ich gebe zu, ich erwarte von keinem Menschen, daß er sich Öffentlich rechtfertige. Es sei denn vor Gericht. Ich erwarte überhaupt nicht, daß jemand sein Gewissen veröffentliche. Ich fürchte, Gewissen Öffentlich - das sei Zwang zur Anpassung. Ich schließe das aus der Tonart dieser Öffentlichen Gewissensprüfungen. Es gibt auch eine Banalität des Guten.
"Auf welcher Seite des Historikerstreits stehen Sie?" fragt der Redakteur der Suddeutschen Zeitung Herrn Heitmann. Muß es einem nicht leid tun, diesen edlen Streit in einer solchen Hü-Hott-Alternative erstarren zu sehen? Frauen, Ausländer, Nazi-Vergangenheit - das wird abgefragt wie bei uns in der Schule der Katechismus. Und wenn wir geantwortet hatten: Glauben heißt für wahr halten, was Gott durch seine Kirche geoffenbart hat, kriegten wir eine Eins beziehungsweise gehörten dazu.
"Bedecke deinen Himmel, Zeus!" Ja, wen denn sonst als einen Sprachmenschen muß man anrufen in dieser Epoche der Herunterbeterei des Korrekten? Wie das, was ich hier zu sagen versuche, durch selektives Zitieren wieder zu einem rechtsextremen Horrortext gemacht wird, das ahne ich nicht einmal.
Das Fernsehen, mit seiner Macht über die Schläfrigen, zeigt, wie man mit denen umgeht, die von den Zeitungen als inkorrekt ist gleich dumm ist gleich böse zur Weiterbehandlung angeliefert werden. Schnitt und Montage nach Goebbels' Art. Man kann dem Fernsehvolk nicht mit Nebensätzen kommen, also unterschneidet man eine Interviewantwort einfach mit Großaufnahmen marschierender Skinheadstiefel, dann ist schon alles klar.
In diesem Klima genügt es nicht einmal, auf freie Rede zu verzichten, da sollte man am besten gar nichts mehr sagen. Aber dann lautet doch gerade das Telefon, du wirst gefragt, was du zu sagen hast zu der gerade laufenden Vergangenheitsfledderei im Leben Reich-Ranickis. Freie Rede ist gefordert. Nachher liest du's in der Zeitung und siehst, wie falsch deine Antwort war. Die war nämlich so: "Wenn er sich nichts vorzuwerfen hat, habe ich ihm auch nichts vorzuwerfen." Da bin ich doch schon bis zum Hals drin in der Banalität des Guten. Ich habe ihm doch unter gar keinen Umstanden etwas vorzuwerfen! Auch wenn er sich etwas vorzuwerfen hatte, ich habe ihm nichts vorzuwerfen! Nichts Politisches, nichts Moralisches, nichts, was aus dem Gewissen stammt!
Ein wahrhaft belebender Augenblick (28.10.1994): ZDF-Moderator Roger Willemsen beendet ein freundlich informatives Gespräch mit Kerstin Kaiser-Nicht, die gerade ihr PDS-Bundestagsmandat zuruckgeben mußte, weil sie vor Jahren als Studentin in Leningrad für die Stasi tätig gewesen war. Zum Schluß sagt der Moderator: Jetzt haben Sie einen Satz vergessen. Frau Kaiser-Nicht hat keine Ahnung, was er meint. Er: daß Sie bereuen, was Sie in Leningrad getan haben. Sie: Das könne sie nur Menschen gegenüber ausdrucken, denen sie geschadet haben könnte. "Es würde mir schwerfallen, diesen Satz hier Ihnen gegenüber auszusprechen", sagt sie. Das ist unser Zeitgeisttheater: Da der es gut meinende Moralstaatsanwalt, der die Formel fordern muß, dort die Inkorrekte, die Öffentlich beichten soll, damit alles wieder in Butter ist.
Nichts ist doch so sehr eines jeden Sache wie das Gewissen. Mein heiliger Kierkegaard hat gesagt, es sei schon unethisch, aus dem Verhalten eines anderen auf dessen Inneres zu schließen! Ein Gran dieses Respekts vor dem Gewissen anderer täte zur Zeit uns allen gut. Kann man sich, bitte, nicht vorstellen, was Heidegger gedacht und empfunden hat, als er nach 1945 die Scheußlichkeit des Dritten Reiches zur Ganze erfuhr? Abgesehen davon, daß er ja die Vorwurfe beantwortet hat - muß er das wirklich mir gestehen oder irgendeiner Öffentlichkeit?
Augustin hat gesagt, das Gedächtnis sei der Magen der Seele. Der Satz stammt aus der Erfahrung, daß im Gedächtnis nichts bleibt, wie es hineinkommt. Das Gedächtnis ist keine Lagerstätte, sondern ein Prozeß. Es gibt kein gleichbleibendes Verhältnis zu einem Geschehenen. Ich glaube nicht, daß wir wirklich mit Schuld leben können. Durch diese zwei Diktaturen ist es offenbar eine deutsche intellektuelle Spezialität geworden, anderen vorzuwerfen, sie gestünden die deutsche Schuld oder die eigene Verstrickung in diese Diktaturen nicht deutlich genug, nicht reuig genug.
Ich habe dreimal mit Menschen zu tun gehabt, die andere getötet haben. Meine Erfahrung: Diese Schuldigen haben mir immer und immer wieder erzahlt, wie ES passiert sei. Sie haben ES nicht getan. ES sei passiert. Die Lage war so und so, dann passierte das und das, und dann, ja, dann passierte ES. Das hatten sie doch nicht gewollt. Offenbar können die, die von uns einen anderen Umgang mit der Schuld verlangen, selber mit Schuld leben. Wir sind als Nation schuldig. Schon aus diesem Grund ist es nicht möglich, von Nation nicht mehr zu sprechen. Es war nicht die Gesellschaft, nicht das Volk, es war die Nation. Ich kann mich dieser nationalen Schuld gegenüber nicht anders verhalten als gegenüber einer persönlichen Schuld. Das heißt: In mir laufen, wann auch immer
diese Schuld zur Sprache kommt, seit Jahrzehnten Gedankenreihen ab, die haben, bei aller Verschiedenheit, doch immer eine Tendenz: Ich suche Umstande, die aus der Tat ein Geschehen machen. Es hilft mir nichts, wenn ich nachgebetet höre: Die deutsche Schuld ist singulär; diese Deutschen sind die schlimmsten Menschen, die es je in der Geschichte gab; wir können gar nicht oft genug davon sprechen... Inzwischen sehe ich schon jedem dieser Gedenktage mit krankem Gemüt entgegen. Ich suche immer nach Gründen. Wie ist es passiert? Wie hat das geschehen können? Und ich komme zu keinem Ende, zu keinem ausreichenden Grund. Jeder Punkt, der auf dieser Gedankenstrecke erreicht werden kann, ruft seine Anfechtung hervor.
Und ich kann meinen Umgang mit unserer Schuld keinem empfehlen. Die Details sind gar nicht vorzeigbar. Ich wundere mich darüber, daß die Männer nie von ihrem eigenen Umgang mit der Schuld sprechen. Das sollten sie, glaube ich, wenn sie uns helfen wollen. Aber selbst dann wäre damit noch nichts für andere vorgeschrieben. Es gibt kein normatives Verhältnis zu dieser Schuld, keine Standardisierung des Bekennens. Dann kann also in 70 oder 80 Millionen Versionen von dieser Schuld gesprochen werden? Ja. So wie es jeder erlebt.
Wenn der deutsche Bundespräsident Polen um Vergebung bittet für die deutschen Verbrechen, dann ist das eine längst fällige Geste. Aber sie findet aüberhalb von mir statt. Sie entlastet mich nicht, weil sie mir nichts erklärt. Wir wollen uns von denen unterschieden sehen, die damals handelten. Im großen ganzen unterschieden. Überhaupt unterschieden. Aber wir gehoren dazu. Also weiter: Erklarungen, Grande, Herleitungen.
Ich weiß , auf diesem Wortweg wird mir das Wort Relativierung entgegengehalten werden und das Wort Singularitat und Jenninger und Heitmann und so weiter. Also schrecke ich zurück. Mein Gewissen bleibt unveröffentlicht.
Als Heitmann gefragt wurde, auf "welcher Seite des Historikerstreits" er stehe, begriff er sofort, was verlangt war, und sagte: "Ich glaube, daß der organisierte Tod von Millionen Juden in Gaskammern tatsachlich einmalig ist - so wie es viele historisch einmalige Vorgange gibt." Das ist zwar inhaltlich kaum zu bestreiten, aber hauptsachlich erlebt man in diesem schaurigen Satz doch einen Correctness-Spagat, und der ist schauriger, als alles Inhaltliche sein kann. Das sollten die Herbeter und Abfrager und Insgewissenredner einmal überlegen: ob sich das furchtbare Faktum zu solchen Zulassungs-Spielchen eignet. natürlich wollte der Herr Kollege von der sogenannten liberalen Suddeutschen nur dafür sorgen, daß Öffentlich werde, wie wenig der Konservative aus Dresden sich eigne, Bundespräsident zu werden. Aber darf dazu gar alles instrumentalisiert werden? Über Auschwitz kann es doch gar nicht zwei Meinungen geben. Aber man kann eine Art, auf die Frage nach Auschwitz zu antworten, so ritualisieren, daß jede andere Art zu antworten zur Blasphemie erklärt werden kann. Das ist das, was bei uns jetzt erreicht ist. Die Formalisierung, die Standardisierung der Sprache für das, was aus dem Gewissen stammt.
Ein Beispiel, das die Folgen dieser Standardisierung in schon grotesker Weise und in monströsem Ausmaß zeigt: die Rede und die Wirkungen der Rede, die Philipp Jenninger als Präsident des Deutschen Bundestags am 10. November 1988 im Bundestag hielt in der "Gedenkveranstaltung aus Anlaß der Pogrome des nationalsozialistischen Regimes gegen die jüdische Bevölkerung vor 50 Jahren". Ich zitiere einen Satz, der wirklich repräsentativ für diese Rede ist, für ihren Geist:
Im Rückblick wird deutlich, meine Damen und Herren, daß zwischen 1933 und 1938 tatsächlich eine Revolution in Deutschland stattfand - eine Revolution, in der sich der Rechtsstaat in einen Unrechts- und Verbrechensstaat verwandelte, in ein Instrument zur Zerstörung genau der rechtlichen und ethischen Normen und Fundamente, um deren Erhaltung und Verteidigung es dem Staat - seinem Begriffe nach - eigentlich gehen sollte.
Ms die Rede gehalten wurde, war ich in Amerika. Ms ich die Rede las, habe ich nicht begriffen, warum der Präsident des Deutschen Bundestags wegen dieser Rede so senkrecht hinabgestürzt wurde wie kein anderer Politiker seit 1945. Offenbar meine man, um diese Erledigung einer Person zu verstehen, die Kassette anschauen. Die Zuhörer haben durch ihre Reaktionen den Skandal bewirkt. Unverabredet, lauter ehrenwerte, höchst zuständige Zeitgenossinnen und Zeitgenossen.
Eine Art unwillkürlicher politisch-moralischer Lynchstimmung muß da aufgekommen sein. Daß die Fragen, die diese Stimmung produzierten, rhetorische Fragen waren, ihrer Form nach in die für das Zitieren und nicht für das Behaupten brauchbare Grammatikschublade "erlebte Rede" gehörend, das merkte im Correctness-Rausch des Augenblicks niemand mehr, aber auch keinem der nachträglich den Sturz legitimierenden Intellektuellen fiel das ein oder auf. Der SPIEGEL überschrieb seine Pressestimmensammlung mit einer Zeile aus Le Monde: "Das Resultat: eine Katastrophe". Daß Jenninger nachher noch untadelige Fürsprecher fand, zum Beispiel Simon Wiesenthal, hat ihm nichts mehr genützt.
Ich will, um dem Druck des Aktuellen zu entgehen, ein zurückliegendes Beispiel für eine moralisch-politische Entwicklung zitieren. Thomas Mann, Weltkrieg eins. Eine Engländerin, Edith Cavell, hatte - in Schwesterntracht - belgische Soldaten aber die Grenze gebracht, wurde vor den Gewehrlaufen des deutschen Exekutionskommandos ohnmächtig, ein deutscher Offizier erschoß die Ohnmächtige mit dem Revolver. Thomas Mann kommentiert: "Die Ententewelt" "plärrte" "die standrechtliche Erschießung einer englischen Frau". Und kommt zu folgendem Schluß: "Eine politische Handlung zu begehen, die vor die Flintenlaufe fahren kann, sollte nur der sich befugt und berufen glauben, der einigermaßen sicher ist, angesichts der Flintenlaufe nicht ohnmächtig zu werden." Das war mitten im Krieg, das war die Betrachtung eines Schriftstellers, der sich für unpolitisch hielt.
Es hatte ihm wohl kaum geholfen, wenn man ihn 1919 oder 1929 aufgefordert hatte zu bedauern. Er erschrieb sich die Kurve von Wilhelm Ü. zu Ebert selbst; vom einigermaßen glühenden Antidemokraten und Kriegsbeschöniger zum Republikaner, zum Demokraten, ja zum Sozialisten. Und er muß jenes von bösen Imperialismen strotzende Weltkriegsbuch gar nicht verdrangen. Die "Betrachtungen eines Unpolitischen" - das war, sagt er nach dem Krieg, "konservativ - nicht im Dienste des Vergangenen, sondern in dem der Zukunft".
Diese Biographie kommt aus ohne Bedauern. Er kann es gar nicht anders als richtig gemacht haben. Ich zitiere das als ein Beispiel für die extremen Positionen, die eine Biographie unter den Nötigungen der Zeit innerhalb von ein paar Jahren durchlaufen kann. Die Nötigungen der Zeit geben den Ausschlag. Ich fände den Eifer, mit dem bei uns Biographien gefleddert und geahndet werden, noch verständlich, wenn es einen Zweifel gäbe darüber, ob dieses Verhältnis mm Nationalsozialismus und jenes mm Stalinismus eine Verfehlung war. Dann wäre die Öffentliche Erörterung sinnvoll. Daß aber Verstrickungen in die Diktatur-Systeme Verfehlungen waren, wissen wir ohne jede aktuelle Zeigefingerbemühung.
Nichts ist moralisch, politisch entschiedener als die moralische, politische Bewertung und Einordnung dieser beiden deutschen Vergangenheiten. Aber selbst wenn ein Historikerstreit entsteht, so ist das doch noch etwas anderes als die Instrumentalisierung dieser Vergangenheiten für Zulassungsrituale und Political-correctness-Prüfungen, für Improvisationen auf der - um auch einmal so einen Schmierseifengenitiv zu bemühen - Moralorgel des Feuilletons. Ich jedenfalls schäme mich lieber unaufgefordert als aufgefordert. Ich ernte nicht auf Befehl. Ich denke allerdings so von uns, daß ich glaube, etwas Ungutes lasse uns keine Ruhe. Man kann uns uns aberlassen. So inkorrekt, wie wir nun einmal sind. Nach außen ist nur soviel zu melden: Glaubt nicht, ihr klimabeherrschenden Korrektheitsdesigner, daß ihr uns durch und durch klimatisiert habt. Je mehr ihr das Sagbare ritualisiert, desto lebendiger wird innen die freie Rede. Tabuzüchtung im Dienst der Aufklarung - das ist herausgekommen, als versucht wurde, die Grundgesetzlippengebete der konservativen Vorgänger durch demokratische Praxisbedürfnisse zu blamieren und den politischen Handlungsbedarf wirklichkeitsnaher zu formulieren. Denn das war bei den konservativen Vorgängern die political correctness: So kleine Schritte konnte man gar nicht machen, daß sie einem nicht nachgewiesen hatten, damit habe man den Boden des Grundgesetzes verlassen. Und damit war man auf dem Weg, Unperson zu werden.
"Gestoppte Demokratie" habe ich damals unseren Großen Koalitionszustand genannt und mm erstenmal erfahren, wie political correctness bei uns zur Zulassungsbedingung gemacht wird. Daß ich Bedürfnisse inzwischen nicht mehr als forsche Meinungen auftreten lasse, liegt nicht daran, daß meine Bedürfnisse ausgestorben waren, sondern daran, daß ich in politischer Hinsicht nur noch das auszusprechen wage, zu dessen Realisierung ich selber etwas beitragen kann. Das reine Wunschdenken habe ich ganz und gar privatisiert.
Die zweite Erfahrung mit der Standardisierung des politischen Ausdrucks habe ich gemacht, als ich den von uns allen erwarteten Beitrag zur Vernünftigmachung der deutschen Teilung nicht mehr leisten konnte. Da war man auch sofort inkorrekt bis dumm bis böse. Basta. Die 40 Jahre dauernde Front des Kalten Krieges hat jede Aui3erung auf jeder Seite gefärbt, geprägt, bestimmt. Keiner konnte einen Satz sagen oder denken, der davon frei gewesen wäre. Es war noch einmal religiöse Konfrontation. Heilsgeschichte so oder so. Und davon waren wir jetzt endlich frei. Es gibt Sünden, die sterben aus. Dann sind es anachronistische Sünden. Beobachtet zu werden, ob man anachronistische Sünden begehe - das ist das, was wir zur Zeit erleben. Freie Rede? Noch nicht.
Damit sind wir wieder beim Charakteristikum dieses Jahrzehnts: Tabuzüchtung im Dienst der Aufklärung. Machtausübung, die sich als Aufklärung versteht. Ich würde mich natürlich freuen, wenn meine nachste Rede aus ganz anderen Gründen wieder keine freie Rede sein wurde. Ich würde mich sehr freuen.
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